Der endlose Sommer geht nun doch zu Ende, aber was für die einen eine wunderbare Zeit war, wird den Kinomachern als mittlere Katastrophe im Gedächtnis bleiben. In Restaurants und Cafés war ein freier Platz kaum zu finden, in den Kinosälen herrschte gähnende Leere. Wer mit zehn Prozent Umsatzrückgang davongekommen ist, kann sich glücklich schätzen, branchenweit waren es fast 20 Prozent. Das wird sich kaum ausgleichen lassen, auch wenn das Wetter wieder kinofreundlicher wird. War das Ganze aber nur ein perfekter Sturm aus hohen Temperaturen, Fußballweltmeisterschaft und Filmen, die beim Publikum nur auf verhaltenes Interesse stießen? Eine Delle, die man schnell wieder vergessen kann, weil es eben manchmal besser und manchmal eben leider auch schlechter läuft?
Auf den ersten Blick kann man sich nicht beklagen. In Deutschland gibt es 1.671 Kinos mit 4.871 Leinwänden, so viele wie seit Jahren nicht. Die Anzahl der Plätze ist auf Rekordniveau: 788.000 Kinosessel stehen für das Publikum bereit. Das ist die eine Seite. Aber gleichzeitig wurden im ersten Halbjahr 2018 nur 51 Millionen Tickets verkauft. 2013 waren es noch 62,7 Millionen. Der Umsatz im ersten Halbjahr ging um 57,2 Millionen Euro zurück auf 439,1 Millionen. Aber das ist keine Ausnahme. Seit Jahren schrumpft der Umsatz. Es bröckelt hinter der Leinwand, und wir müssen aufpassen, dass daraus keine Kinokrise wird.
Eine Löwe für Netflix
Auf den Filmfestspielen in Venedig konnte man betrachten, wo die Gefahr für die Kinos lauert. Es gab dort einen wunderbaren Film zu sehen, von Alfonso Cuarón, dem mexikanischen Regisseur, der mit seinem Film Gravity 2014 sieben Oscars gewonnen hat. Auch Gravity feierte übrigens seine Weltpremiere in Venedig. Cuaróns neues Werk heißt Roma, eine in Schwarz-Weiß gefilmte epische Familiengeschichte, die in den 70er Jahren in Mexico City spielt. Für viele Kritiker war es eines der Highlights am Lido, der Film gewann am Ende sogar den Goldenen Löwen. Nur wird er voraussichtlich niemals für ein breites Publikum im Kino zu sehen sein – denn er ist eine Produktion des Streamingdienstes Netflix. Und das Kino spielt für diesen Konzern höchstens aus Imagegründen eine Rolle.
Eines muss man den Online-Strategen lassen: Ihnen ist mit Cuarón ein Coup gelungen. Bei der nächsten Oscar-Show stehen die Chancen nicht schlecht, dass Netflix zum ersten Mal einige Academy Awards einsacken wird. Aber es geht hier nicht nur darum, dass der Newcomer den Hollywood-Schwergewichten eins auswischen könnte. Man muss vielleicht nicht jeden PR-Stunt ernst nehmen, ebenso wenig wie jede Serie, die Streamingdienste wie Netflix oder Amazon ausstoßen. Aber die rund 10 Milliarden Dollar, die allein Netflix 2018 in neuen Content investieren will, die muss man schon ernst nehmen. Und man sollte auch nicht die Augen verschließen vor dem Sturm, der da aufzieht und die Kinolandschaft viel stärker verändern wird, als es ein heißer Sommer je könnte.
Ist das vielleicht nur Pessimismus? Schließlich kommen in Deutschland jedes Jahr etwa 600 Filme in die Kinos, was machen da ein paar mehr Netflix-Produktionen aus. Und die Qualität könne ohnehin nicht mit einem echten Kinofilm mithalten – so hört man es immer wieder. Keine Panik, schön weitermachen wie bisher.
Solche Sätze erinnern mich an eine Haltung, die ich aus einer anderen Branche noch gut kenne. Sie galten einer kulturellen Institution, die genauso großartig wie das Kino ist, allerdings einige hundert Jahre länger etabliert: den Zeitungen. In der Redaktion, in der ich Anfang der Nullerjahre arbeitete, nahm niemand den aufkommenden Online-Journalismus sonderlich ernst. Was für uns Redakteure – mich anfangs eingeschlossen – zählte, musste schwarz auf weiß in der gedruckten Zeitung stehen. Online-Texte waren etwas für Praktikanten und Seiteneinsteiger, aber nichts für Profis. Bekanntlich ging die Geschichte so weiter: drastische Auflagenrückgänge, ebenso drastische Einbrüche bei den Werbeeinnahmen, gefolgt von immer neuen Entlassungswellen. Und wir Redakteure mussten einsehen: Immer mehr Lesern war die gedruckte Zeitung egal, ihnen kam es auf den Inhalt an, und der ließ sich einfacher (und billiger) im Netz finden. Niemand käme heute auf die Idee, dass eine Zeitung ohne eigene Webseite ernst zu nehmen sei – genauso wie vor 20 Jahren kein Verleger auf die Idee kam, eine eigene Webseite ernst zu nehmen.
Bekanntlich wiederholt sich die Geschichte nicht, und natürlich lässt sich die Medienkrise, unter der die Zeitungen bis heute leiden, nicht eins zu eins übertragen. Aber es gibt Parallelen. Zum Beispiel, dass immer weniger Leute ins Kino gehen. Dass das Publikum immer älter wird. Dass das (relativ) neue Angebot im Netz längst nicht von allen Kinomachern als das wahrgenommen wird, was es ist: eine – darin übrigens vollkommen anders als das Fernsehen – immer attraktivere (und billigere) Alternative zum Kino. Am Ende ist es ein Nullsummenspiel: Je mehr Zeit die Zuschauer mit Netflix & Co. verbringen, umso weniger bleibt für die anderen übrig.
Zum Glück ist es noch nicht zu spät. Das Kino ist als kultureller Ort fest verankert, wir Kinomacher können also selbstbewusst in diesen Konkurrenzkampf ziehen. Denn eines wird Netflix niemals zu bieten haben: gemeinsam in einem abgedunkelten Saal einen Film zu genießen. Kein Handy klingelt, kein Feed muss gecheckt, keine E-Mail verschickt werden. Man lacht und manchmal weint man auch zusammen. Man ist eben bei der Sache – anders als zu Hause in den eigenen vier Wänden. Aber die Zahlen zeigen auch: Das alleine wird nicht ausreichen, um gegen die Online-Giganten zu bestehen.
Es braucht mehr Mut und vor allem: mehr Experimentierfreude. Derzeit haben die Kinos noch Zeit dafür, ein Luxus, den die Branche den Zeitungen voraushat. Wichtig ist dabei vor allem eines: Wir müssen mehr auf unser Publikum zugehen. Viel mehr. Wir im Hamburger Abaton-Kino arbeiten derzeit beispielsweise an einem Projekt für ein Mitmach-Kino. Unsere Zuschauer sollen die Möglichkeit erhalten, Filme aus dem Repertoire vorzuschlagen. Das kann ein Titel sein, der sechs Monate alt ist oder sechs Jahre. Wir werden die Vorschläge kuratieren, die Filme für einen bestimmten Tag vorschlagen – und dann kann abgestimmt werden. Welcher Film zuerst eine bestimmte Zuschauerzahl überschreitet, wird dann gezeigt. Wenn man so will, eine Mischung aus Crowdfunding und Kickstarter. Wir werden so eine Abaton-Community aufbauen.
Dem ein oder anderen mag diese Idee bekannt vorkommen, und ich gebe zu: Der Freitag war uns dabei eine Inspiration. Der Community-Journalismus, also die Idee, dass nicht nur Redakteure, sondern auch Leser eine Zeitung mitgestalten, hat dem Blatt nicht nur durch die Medienkrise geholfen, sondern war eine der Grundlagen für den publizistischen Erfolg. Was sollte auch dagegensprechen, ein Projekt zu öffnen, das nicht nur einem selbst, sondern auch vielen anderen am Herzen liegt?
Mehr Nähe zum Publikum
Bei der Flut der Filme, die jedes Jahr hierzulande in die Kinos kommen, kann kein Mensch den Überblick behalten – wie auch? Die Zeitungen und Webseiten reduzieren ihre Filmberichterstattung immer weiter. In diesem undurchdringlichen Angebotsdschungel kann man nur die Orientierung verlieren. Wer aber immer seltener weiß, welcher Film interessant sein könnte – wie soll er da dem Kino treu bleiben?
Wie so oft liegt in dem Problem auch die Lösung. Denn wer, wenn nicht wir Kinomacher, könnte dem Publikum besser erklären, warum es sich für einen Film interessieren soll? Schließlich haben wir ihn ausgewählt. Die Programmkinos haben die Expertise und die Glaubwürdigkeit, Empfehlungen zu geben. Aber wir nutzen diese Vorteile viel zu selten aus. Mit reinen Inhaltsangaben in Programmheften und auf Webseiten wird es in Zukunft nicht getan sein. In den Zeitungen will ja auch kein Mensch mehr nur Nachrichten lesen. Wenn wir uns trauen, uns stärker dem Publikum zu öffnen, und es uns gelingt, die Zuschauer mit attraktiven Veranstaltungen noch enger an uns zu binden, müssen wir uns vor dem Strukturwandel nicht fürchten. Denn kommen wird er. Und wir sollten darauf vorbereitet sein.
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