Krimi „Die Große Uhr“ von Kenneth Fearing ist ein großartiger, atmosphärischer New-York-Thriller aus dem Jahr 1946. Nun erscheint er erstmals in deutscher Übersetzung
Auch groß: die Verfilmung mit Ray Milland (links) und Charles Laughton von 1948
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Bei der folgenden sexistischen Figurenzeichnung werden die Instinkte einer neuen Generation von hochsensiblen Lesern gewiss verrücktspielen: „Sie war groß, eisblond und umwerfend. Dem Auge bot sie nichts als pure Unschuld, doch die Instinkte witterten heiße Erotik, und der Verstand spürte die Nähe der Sünde.“ Doch Kenner klassischer Hardboiled-Literatur wissen: Das gehört eben dazu. Protagonistinnen in der klassischen Phase des Krimi noir samt ihren düsteren filmischen Adaptionen sind zumeist die Opfer einer Gesellschaft, die den Glauben an die Tragfähigkeit der alten amerikanischen Ideale verloren hat, alles ist geprägt von lakonischem Pessimismus und moralischem Verfall.
Sexuell potent sind diese Frauen und insofern mit einer g
it einer gewissen zweifelhaften Macht ausgestattet. Dennoch werden sie von den Männern versklavt. Oder sie werden gleich ermordet wie die soeben beschriebene Pauline Delos in Kenneth Fearings Thriller Die große Uhr aus dem Jahr 1946. Der Hauptfigur George Stroud ist Pauline zum ersten Mal „auf einer jener unendlich wichtigen Partys begegnet, zu denen Earl Janoth alle zwei bis drei Monate einlud – ausgewählte Mitarbeiter, persönliche Freunde, diskrete Millionäre und öffentlichkeitssüchtige Nobodys, in beliebiger Reihenfolge“. Der mächtige Verlagsunternehmer Janoth ist Strouds Boss. Er selbst ist Chefredakteur eines True-Crime-Magazins in einem „Imperium der Informationsbeschaffung“.Der Mörder sucht sich selbstIm Lauf der Handlung fällt kaum ein weiterer Satz über das Äußere einer Femme fatale, vielmehr fallen solche: „Möglicherweise ist der Bedarf an Qualitätsjournalismus bald nicht mehr so groß wie bisher. Ich erhalte Hinweise aus dem Vertrieb!“ Oder später: „Heute liest doch keiner mehr. Fakten als Bilder, das ist die Zukunft.“ Was sich anhört, als habe man kürzlich die Strategiebesprechungen bei Gruner + Jahr, Axel-Springer-Verlag oder bei einem anderen großen Medienkonzern für eine Fiktion belauscht, macht klar, um was es Fearing, dem Sympathisanten der Sozialisten und Lyriker, in seinem einzigen Bestseller auch ging: um eine Kritik an den Massenmedien, um das Sichtbarmachen eines Konsumismus, der vieles, was noch ein Fünkchen Moral in sich trägt, auszulöschen droht.Alles musste in den USA nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als der Kalte Krieg gerade begann, auf Teufel komm raus vermarktet und verkauft werden. Genauso wie heute. Das klingt didaktischer, als es ist. Denn Fearings Buch ist vor allem ein großartiger, spannend durchkomponierter, atmosphärischer New-York-Thriller, der erstaunlicherweise erst jetzt ins Deutsche übersetzt wurde. In Frankreich übernahm diesen dankbaren Job kurz nach Erscheinen niemand Geringeres als Boris Vian. Diesmal sucht aber nicht eine Stadt oder ein Privatdetektiv den Mörder, sondern ein Unschuldiger, der kein Mörder ist, sucht sich selbst.Ein Plot, der einem bekannt vorkommen mag. Vielleicht aus dem Thriller No Way Out mit Gene Hackman, Kevin Costner und Sean Young. Der Film ist eine sehr lockere Adaption des Romans, die die Handlung aus der Medienwelt ins Pentagon verpflanzt. Und da gibt es natürlich die Verfilmung von 1948, fantastisch besetzt mit Charles Laughton, Maureen O’Sullivan und Ray Milland. Sie ist sehr nah am Original und fängt visuell aufwendig immer wieder die große Metapher ein, die dem Roman seinen Titel gab: „Diese gewaltige Uhr, die Ordnung schafft und selbst das Chaos in Regeln zwingt, sie hat sich nie geändert, sie wird sich niemals ändern oder ändern lassen.“ Es geht also primär nicht um das banale Ticken der Uhr, das uns die eigene Sterblichkeit bewusst werden lässt, sondern, wie es der deutsche Herausgeber Martin Compart formuliert, darum, dass die Uhr im Dienst eines Medienkonzerns stehe, „der weder freie Menschen will noch Kultur. Indem er Kultur zum reinen Konsumgut degradiert, reduziert er sie auf ein reines Handelsgut.“Doch zurück zu Fearings erzählerischem Uhrwerk, das er mit einer mulitperspektivischen Erzählweise am Laufen hält. Vorwiegend spricht aus der Ich-Perspektive natürlich die Hauptfigur George Stroud zu uns, daneben sechs weitere Figuren, die aus ihrer Sicht die Handlung chronologisch vorantreiben. Wir erfahren, dass Stroud gern säuft, zugleich ein liebevoller, gewitzter Papa ist, seine Frau betrügt (nicht nur mit Pauline, der Freundin seines Chefs) und herausfindet, dass Janoth der Mörder ist, es aber nur schwer beweisen kann.Kluge InvestigativjournalistenUnd ginge er zur Polizei, würde er mit dieser Aussage seine Ehe zerstören. Ein Dilemma. Janoth weiß aber nicht, was Stroud weiß. Darum beauftragt ihn der Verlagsboss damit, ein Team im Magazin Crimeways zusammenzustellen, das sich auf die Suche nach dem vermeintlichen Mörder macht, der ja Zeuge seines Verbrechens sein muss. So könnte Janoth diesen später aus dem Weg räumen. Stroud versucht diese „Ermittlungen“ natürlich zu erschweren, doch die ihm untergebenen Investigativjournalisten sind klüger als gedacht. Ein Malerin, eine sehr unkonventionelle Frauenfigur im Übrigen, wird hierbei eine Schlüsselrolle einnehmen.Spannend geht es in dem 24-seitigen Nachwort des Krimi-Aficionados Martin Compart weiter. Dieser betreute bereits Reihen bei Ullstein, Dumont und anderen Verlagen und hat eine neue Heimat beim kleinen Verlag Elsinor gefunden. Hier erfahren wir etwa von einem biografischen Bonmot aus dem Leben des Alkoholikers Fearing, der trotz dieses Erfolges überwiegend in prekären Verhältnissen leben musste. Auch ihn lud das „Komitee für unamerikanische Umtriebe“ des unsäglichen Senators McCarthy im Jahr 1950 vor. Fearing antwortete auf die Frage, ob er denn Mitglied der Kommunistischen Partei sei: „Noch nicht.“Placeholder infobox-1