Einen ersten, schönen Satz für diesen Artikel könnte der Schriftsteller doch zum Spaß aus dem Ärmel schütteln. Nur für alle Fälle. Auch Journalisten haben zuweilen Schreibblockaden. Jan Peter Bremer jedenfalls quält seine Figuren in der Fiktion mit dieser Schaffenskrise. Genüsslich dokumentiert er ihren Kampf um Sätze. „Seit Wochen schon war kein einziger Satz zu ihm zurückgekehrt. Völlig planlos und tot lagen sie in der Landschaft seines Notizbuches herum“, so steht es in seinem Roman Der amerikanische Investor (2011). „‚Es gibt so unsagbar viele Sätze‘, dachte ich, ‚und ich habe keinen einzigen‘“, so steht es im Feuersalamander (2000). Die Satzsuche ist ein motivischer, t
„Nachhausekommen“ von Jan Peter Bremer: Enfants terribles aus Westberlin
Begegnung Jan Peter Bremer lässt das Groteske und Absurde hinter sich und begibt sich mit seinem neuen Roman in eine von Künstlern geprägte Kindheit – seine eigene im Wendland, damals „Zonenrandgebiet“

An ersten guten Sätzen sitzt Jan Peter Bremer oft Monate, manchmal Jahre
Foto: Max Zerrahn für der Freitag
st ein motivischer, tragikomischer Dauerbrenner in seinem schmalen Werk. Zumindest war sie es. Sein neues Buch Nachhausekommen ist anders, so viel vorweg.„Also ich weiß nicht“, sagt Bremer auf meine Bitte hin. „Das Problem ist, dass ich an den ersten guten Sätzen oft Monate, manchmal Jahre sitze.“ Leider können wir so lange nicht warten, zumal das Lokal Kastanie mit seinem idyllischen Biergärtchen auf der Schloßstraße in Berlin-Charlottenburg bestimmt schon gegen Mitternacht schließt.Bremer kam pünktlich auf die Minute, obwohl er mit dem Rad nicht nur durch die halbe, sondern durch die ganze Stadt fahren musste, um in den Bezirk zu gelangen, in dem er 1965 auf die Welt kam. Mittlerweile lebt er im Südosten Berlins, im Kaskelkiez in Lichtenberg. Seine Frau Britta ist dort Kinderschutzkoordinatorin, sie gehe sehr früh auf ihr Amt und kehre am späteren Abend wieder heim, sagt er. Er schreibt zu Hause, wie man vermuten kann, und wartet auf sie, als wäre er eine seiner Romanfiguren.Schrullige und verschrobene ProtagonistenAn Zweiertisch unter der hohen, mächtigen Kastanie hat der Verfasser von „Bonsai“-Romanen, wie ihn vor mehr als 30 Jahren eine Kritikerin einmal liebevoll titulierte, Platz genommen. Bremer bestellt an diesem schwülheißen Augusttag durstig, aber nicht schwitzend ein alkoholfreies Weizenbier. Jetzt könnte man beim anfänglichen Smalltalk über den Topos Wetter in der Weltliteratur plaudern, nachdem das Ansinnen wegen des ersten Satzes so kläglich gescheitert ist.Warum eigentlich? Bremers Unvermögen, im richtigen Leben spontan einen ersten Satz rauszuhauen, sagt schon viel über den Autor als Mensch aus. Auch seine Frage, ob die Sprachaufzeichnungs-App auf dem iPhone vorinstalliert sei oder ob man sie extra herunterladen müsse, verrät viel über das Entrücktsein eines Dichters in der realen Welt. Die müßige Frage, inwieweit der Autor vom Werk mit seinen meist schrulligen, verschrobenen, irgendwie sympathischen Protagonisten zu trennen ist, beantwortet sich von selbst.Los ging es mit grotesken Mini-Texten Ende der 1980er, denen 1991 der erste Mini-Roman Einer der einzog das Leben zu ordnen mit 88 Seiten folgte. Darin wünscht sich ein junger Mann beim Putzen einen Diener, um mehr Zeit für sich zu haben. Am Ende heißt es: „Der Diener hatte ihm so viel von dem Park und besonders der Allee erzählt, dass er den heutigen Tag nicht nutzlos vorüberstreichen lassen wollte. Endlich hatte er Zeit.“ Während Bremer sich kurz entschuldigt, nutze ich die Zeit und blicke auf die schöne Allee und ihren baumbestandenen Mittelweg. Dort wird oft Boule gespielt. Berlin hatte schon immer etwas Dörfliches, nicht nur was das politische Personal und die Bürokratie anbelangt. Und das ganz besonders – und nur darüber kann ich aus eigener kindlicher Erinnerung sprechen – im alten Westberlin.Bremers neuer Roman Nachhausekommen erzählt aber nicht von dieser Provinz, sondern vom Wendland – damaliges „Zonenrandgebiet“ – in Niedersachsen. Als Junge zog er 1970 mit seiner Familie dorthin. Der Grund dafür war natürlich – wie fast immer in dieser Zeit – der Wille des Vaters.Uwe Bremer war Teil der Künstlergruppe „Werkstatt Rixdorfer Drucke“, zusammen mit Albert Schindehütte, Arno Waldschmidt und Johannes Vennekamp; die Akteure stilisierten sich in den 1960ern zu Westberliner Enfants terribles. Ihre Druckerzeugnisse – Bücher, Plakate, Flugblätter, Bilderbögen und Kalender – waren einerseits nostalgisch, andererseits respektlos, oft obszön. Ein Kollektiv, über das der Spiegel 1966 schrieb, es handele sich um „Lokal-Genies“, die aber „lieber schluckten als druckten“. Anfang der 1970er verlegte der Vater die Werkstatt komplett vom Kreuzberger Hinterhof in der „Frontstadt“ ins Schloss Gümse.Das idyllische Gut mutiert zum intellektuellen Treffpunkt: Autoren wie Nicolas Born, Peter Handke, Lew Kopelew, Peter Rühmkorf, Sarah Kirsch, Reinhard Lettau, Michael Krüger, Günter Bruno Fuchs und viele andere schauen vorbei. Es gibt im Sommer kleine Fußballturniere. Auch ein niedersächsischer Jungpolitiker namens Gerhard Schröder lässt sich dort blicken (der freundschaftliche Kontakt seines Vaters zum Ex-Kanzler sei derzeit eingeschlafen, wird Bremer später anmerken).Kafka, Beckett, Walser (Robert naturgemäß), manchmal sogar Bernhard.Solch detailliertes Namedropping (mit Ausnahme der Abkürzung „H. C. A.“ für den Lyriker H. C. Artmann) findet sich freilich nicht im Buch. Es beschreibt dieses Umfeld aus einer Jungenperspektive, nur manchmal zart und unauffällig durchbrochen durch die eines allwissenden Erzählers.Kann Bremer für seinen neuen „Roman“ mit der mittlerweile aufgeweichten, regelrecht ausgelutschten Genrebezeichnung „Autofiktion“ leben? Zur Charakterisierung der vorangegangenen Werke bemühte die Literaturkritik bislang meist die ganz Großen: Kafka, Beckett, Walser (Robert naturgemäß), manchmal sogar Bernhard. Müssen nun Annie Ernaux oder der Schriftstellerkollege Andreas Maier mit seiner autobiografisch grundierten Heimatkunde herhalten?Gegen den Begriff „autofiktional“ hat Bremer erst einmal nichts einzuwenden. „Der Roman hat natürlich auch fiktionale Züge“, sagt er, mittlerweile bei einem kalten Berliner Kindl angelangt. „Gleichzeitig habe ich aber auch versucht, ein Sittengemälde der Siebziger zu zeichnen und von einem merkwürdigen Künstler auf dem Land zu erzählen, der sich aus der Welt entfernt hat, um sich dort eine neue Existenz aufzubauen.“ Parallel erzähle das Buch von einem Kind, das auf dieser Insel lebe, dort ein herrliches Zuhause habe, aber keines finde, sobald es dieses verlasse und in die dörfliche Welt hineinlaufe.Bremers Buch mit seinen 208 Seiten ist fast ein Opus magnum im Vergleich zu den Vorgängern. Und ja, die Sprache hat das Märchenhafte verloren, das etwa seinen Roman Der Fürst spricht auszeichnete und mit dem er 1996 die Jury verzaubern konnte, die ihn mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis belohnte. Auch die typische Komik scheint wie von Zauberhand abhandengekommen zu sein. Bremer räumt ein: „Die Komik ist diesmal in der Grundgeschichte nicht wirklich vorhanden. Allerdings glaube ich, dass es ironische Details gibt.“ Das Buch sei ein „Mittelding zwischen Anteilnahme und Amüsement“.Was auf jeden Fall geblieben ist, ist Bremers Fähigkeit, gesellschaftliche Debatten, die erst mit Verspätung so richtig an Fahrt gewinnen, vorab zu thematisieren. Der amerikanische Investor drehte sich um die Gentrifizierung bezahlbarer Altbauwohnungen. Zugleich wurde das nunmehr heiß diskutierte Problem angerissen, dass viele Alte in riesigen Wohnungen allein leben und Wohnraum für jüngere Familien blockieren. In Nachhausekommen geht es an einer Stelle dagegen um eine „schlimme Sendung, die man nicht schauen durfte, weil sie genau an diese allerniedrigsten Instinkte und Gefühle von früher appellierte“. Um Aktenzeichen XY … also. Eine Doku von Regina Schilling über den Straßenfeger mit dem Moderator Eduard Zimmermann ist gerade in der Mediathek des ZDF abrufbar. „Das wusste ich nicht“, sagt Bremer und scheint seine Unkenntnis nicht zu spielen.Apropos ZDF. „Anders als den Nachrichten im zweiten Programm, die bei uns in dieser Zeit nie geschaut wurden, weil sie letztlich nur eine Verlängerung der Springerpresse und somit Propaganda waren, schenkte man den Nachrichten im ersten Programm etwas mehr Vertrauen“, heißt es einmal. Das klingt schon arg nach „Lügenpresse“-Geraune, allerdings aus dem Munde der Linken.Jan Peter Bremer: Vaters Worte hatten stets „mehr Gewicht“Seine Eltern hätten die linke Moral für sich gepachtet, sie hätten geglaubt, dass sie damit über den andern standen, sagt er. Aber so vorbildlich links waren sie dann doch nicht, wenn man Bremers Erinnerungen genauer liest: Es gab „Haushaltsgeld“ für die Mutter (kein gemeinsames Konto!), und Vaters Worte hatten stets „mehr Gewicht“. Der Antifeminismus im Privaten, die Unterstützung des Feminismus in den politischen Diskussionen im Freundeskreis. „Ja, es war eine klassisch strukturierte Familie, in der die Rollen klar verteilt waren“, sagt Bremer.Hierarchien bestimmen auch das Leben des kleinen Jan, er will dazugehören, wird aber von der Dorfjugend seiner Andersartigkeit wegen geschnitten und gemobbt. Über Umwege schafft er es endlich aufs Gymnasium. So viel kann man über das Ende verraten, es ist ja biografisch belegt. Diese wunderbar leichte und zugleich in die Tiefe gehende Coming-of-Age-Geschichte schreit nach einer Fortsetzung. Das klingt jetzt, als redete man mit der Stimme eines Literaturagenten auf Bremer ein. Aber jetzt schreit erst einmal das Baby am Nachbartisch. Bremer lacht. „Genau wie unser Sohn, als wir ihn damals hierher mitnahmen.“ Die junge Familie wohnte ganz in der Nähe, gegenüber der urigen Kneipe Wilhelm Hoeck. Ja eben. Das ist doch ein tolles Thema: Als Leser möchte man zu gern erfahren, wie Jan nach dem Abitur 1985 nach Westberlin zurückkehrt und beginnt, ein Schriftsteller zu werden. Diese hochspannende Zeit, bevor die Mauer fiel …„Ich denke überhaupt nicht an eine Fortsetzung“, sagt Bremer. „Worauf mein schriftstellerisches Leben fußt, ist mit diesem Buch abgegolten. Ich hatte kaum Freunde im Dorf, war in der Schule und im Sport schlecht. Erst mit den ersten Geschichten als Junge kam so etwas wie Selbstbewusstsein in mir auf. Das war die Grundfrage, die ich noch einmal nachzufühlen versucht habe.“Bremer hofft natürlich, mit dem Roman für den Deutschen Buchpreis nominiert zu werden. Er schaut mich intensiv an, als könnte ich darauf irgendwie Einfluss nehmen. Bremer wird nicht nominiert. Doch davon weiß er noch nichts, als er kurz vor Mitternacht sein Rad die Schloßstraße entlangschiebt. Er fragt, wie lange ich wohl für diesen Artikel bräuchte. Das Thema Schreibblockade scheint ihn wirklich zu beschäftigen. Dann fällt ihm doch ein erster Satz ein: „Wir beginnen den Abend so, wie wir ihn auch später beenden, mit einer Zigarette.“