Die Leitplanken des Lebens werden durchbrochen, wenn der Tod eines geliebten Menschen eintritt
Foto: Müggenburg/Plainpicture
Es mag ein Zufall sein – so wie der Tod ein zufälliges Ereignis ist –, dass man den Eindruck gewinnt, es würden gerade ungewöhnlich viele Trauerbücher veröffentlicht. So wurde auch in dieser Zeitung jüngst das tagebuchartige Gespräch über die Trauer von Olga Martynova besprochen. Zudem Maike Wetzels Schwebende Brücken, adressiert an ihren Mann, der an einem schönen Sommertag mit einem Segelboot in der Nähe von Berlin ums Leben kam.
Vor ein paar Tagen poppte eine E-Mail auf, die auf ein Buch mit dem Titel Was bleibt, wenn wir sterben verwies. Die Journalistin und Trauerrednerin Louise Brown gebe darin Hilfestellungen dafür, ein eigenes „Journal für die Zeit der Trauer“ zu erstellen, hieß es in der A
; zu erstellen, hieß es in der Ankündigung.Beim zufälligen Blättern in einer Anthologie fallen einem sofort zwei Verse ins Auge, die man einem solchen Journal voranstellen könnte, ja vielleicht müsste. Sie stammen von der jüdischen Dichterin Mascha Kaléko, die in den 1940er Jahren auf Deutsch in ihrem amerikanischen Exil publiziert wurden: „Bedenkt: den eigenen Tod, den stirbt man nur / Doch mit dem Tod der anderen muß man leben.“Anfang November erscheint dann auch noch einer der schönsten Romane von Paul Auster. In Baumgartner erzählt ein emeritierter Phänomenologe, der locker als ein Alter Ego Austers durchgehen könnte, über sein einsames Leben nach dem Tod seiner Frau. „Sie war die Einzige auf der Welt, die ich jemals geliebt habe, und jetzt muss ich herausfinden, wie ich ohne sie weiterleben kann.“ Erinnerungen, manchmal auch Träume, in denen sie zu ihm spricht, helfen ihm dabei.Baumgartner rekonstruiert nicht nur die eigene Vergangenheit und die seines Großvaters, die ihn sogar in die Ukraine vor dem Kriegsausbruch führt, sondern auch die seiner geliebten Anna. Sie war freie Übersetzerin und Schriftstellerin und kam bei einem Schwimmunfall ums Leben.Austers Krebserkrankung, die in diesem Jahr publik wurde, zwingt zu einer etwas morbiden Lesart: Imaginiert Auster etwa die Zukunft eines Menschen, der den Partner überleben wird, in diesem Fall die Zukunft seiner ebenfalls schreibenden Ehefrau Siri Hustvedt?Es waren MikroereignisseAber vielleicht sieht man gerade nur noch Trauerbücher um sich herum, weil man sich gerade selbst mit einer herausragenden Autorin dieser Literaturgattung beschäftigt hat: mit Brigitte Giraud. Sie bekam 2022 für Schnell leben nach unglaublichen 14 Wahlgängen den bedeutendsten französischen Literaturpreis, den Prix Goncourt, verliehen. Das Buch wurde jetzt von dem Schriftsteller Michael Kleeberg ins Deutsche übersetzt. Es ist aber nicht Girauds erstes Buch über den Verlust ihres Mannes Claude, der im Juni 1999 bei einem Motorradunfall ums Leben kam. „Heute Abend ist Claude gestorben“, so beginnt ihr als Roman ausgewiesenes Trauerbuch Das Leben entzwei. Ist es bloß ein literarisches Wagnis oder schon eine Anmaßung, wenn man Albert Camus’ ikonischen Einstieg „Heute ist Mama gestorben“ aus Der Fremde in abgewandelter Form als ersten Satz eines Buches wählt?Wie Camus sind Giraud und Claude algerienfranzösischer Abstammung, sie wurde 1960 in Sidi bel Abbès geboren und wuchs in den Banlieues von Lyon auf. Das mag die pathetische Camus-Hommage vielleicht erklären. Gedanken über den Tod finden sich auch in ihrem – hierzulande kaum zur Kenntnis genommenen – Roman Das fremde Jahr über eine 17-jährige Französin, die in den 1980er Jahren als Au-pair einen Winter nahe Lübeck verlebt: „Am Drahtzaun hängen Schilder, die jeden davor warnen, darüberzuklettern, und ich kann das Wort ‚Lebensgefahr‘ erkennen, was ich etwas seltsam finde, denn wir Franzosen sprechen von ‚danger de mort‘ – Gefahr von Tod. Eine Frage der Logik. Das Leben ist in Gefahr.“Über Das Leben entzwei schwebte gleichwohl noch die unsterbliche Joan Didion. Das Jahr magischen Denkens erschien 2005, und seitdem ist keine Rezension eines Trauerbuchs ohne eine Bezugnahme auf die Amerikanerin mehr denkbar. Denn sie war die erste prominente Autorin, die so direkt und zugleich sensibel ihre Trauer über den Tod ihres Ehemannes analysierte und äußere Wahrnehmungen und Gefühle in dieser Extremsituation, für die es keine Worte gibt, so exakt in Worte fasste.Der Fokus lag plötzlich nicht mehr auf dem Lebensende eines geliebten Menschen, sondern auf dem Danach, auf dem Leben ohne ihn. „Selbst an durchschnittlichen Tagen fiel mir unzählige Male etwas ein, das ich John dringend sagen mußte. Dieser Impuls hörte mit seinem Tod nicht auf“, schreibt Didion.Giraud konzentrierte sich in Das Leben entzwei auf die Tage nach dem Motorradunfall. Da war sie gerade in Paris, um mit ihrem Verlag die Werbekampagne für ihr neues Buch zu besprechen. Die berühmten Koffer sind längst gepackt, wie auch die Kisten, denn der Umzug der Familie mit dem achtjährigen Sohn in das neue Haus mit Garten auf den Hügeln oberhalb von Lyon steht kurz bevor. Dazu wird es nicht mehr kommen, sie wird mit dem Kind allein einziehen müssen.Ihr schmuckloses Schockprotokoll schließt mit dem Ende der Trauerfeier für den 41-Jährigen. „Wer war dieser Mann, der mich nun für immer verlassen hat?“, fragt Giraud einmal. „Habe ich jemals versucht, ihn wirklich zu begreifen? Und wenn ich ihn begriffen hätte, hätte ich den Unfall dann verhindern können?“Für eine Annäherung an diese Frage hat sich Giraud 21 Jahre Zeit gelassen. Mit Schnell leben versucht sie darauf zu antworten. Es geht ihr dabei in keiner Weise um Schuld, weder um die eigene noch um die der am Unfall mittelbar Beteiligten (dann käme nämlich auch, so verrückt es klingt, Stephen King infrage).Schuld ist höchstens eine Verkettung von vielen Umständen, von winzigen Zeitverschiebungen (selbst die Länge des Songs Dirge von Death in Vegas ist von Bedeutung). Es sind „Mikroereignisse, die sich seit einer Woche begeben hatten, ein Netz webten, dessen Maschen immer enger wurden, so dass sie schließlich unausweichlich zu dem Unfall führten“.Es geht um die vielen Wenns und Abers im Leben – also um die Frage „Was wäre, wenn nicht?“. Es sind diese banalen Wenns, die dafür mitursächlich sind, dass man den falschen Job gewählt hat und obendrein noch die Gelegenheit verpasst, ihn frühzeitig zu wechseln. Manchmal führen diese Wenns aber nicht nur zu einem Scheintod im Leben, sondern zum Exitus.Girauds Herangehensweise, mit dem Verlust schreibend fertigzuwerden, ist neu und originell. Das hat mit Didion nicht mehr viel zu tun. Der unumstößliche Ausgangspunkt hierfür ist die traurige Tatsache, dass sie mit ihrem Sohn nach 20 Jahren ebenjenes Haus räumen muss: „Was für eine Ironie, dass ich einer Straße weichen muss, wo Claude doch auf einer Straße gestorben ist.“Minutiöse RekonstruktionDies ist der Zeitpunkt für ein sich langsam ankündigendes Wenn-Gewitter im Kopf von Giraud: Was wäre passiert, wenn sie damals nicht ihre alte Wohnung hätte verkaufen wollen, um in das schöne Haus zu ziehen, in das sie sich auf manische Weise verguckt hatte? Wenn Claude und sie das Geld dafür nicht gehabt hätten – aber plötzlich war es da, wegen des Selbstmords des Großvaters.Wenn sie den Hausschlüssel erst beim Einzug und nicht bereits vorher ausgehändigt bekommen hätte. Wenn sie Claude nur einmal aus Paris angerufen hätte, anstatt mit ihrer Freundin Wein zu trinken. Wenn es Handys gegeben hätte. Wenn dieser „Quasi-Atomreaktor“, eine Honda CBR 900 Fireblade, nicht für den europäischen Markt zugelassen worden wäre – im Gegensatz zu Japan, wo sie hergestellt wurde, man sie aber nicht fahren durfte. Wenn, wenn, wenn.23-mal stellt Giraud diese Wenn-Frage, jeder widmet sie ein Kapitel. Wie eine Meisterdetektivin rekonstruiert sie minutiös diesen schicksalhaften Tag.Dabei verliert sie sich bewusst in kulturellen, soziologischen, historischen Abschweifungen, zoomt die französische Gesellschaft Ende der 1990er Jahre heran, erzählt ihre soziale Erfolgsgeschichte, endlich mit ihrer Familie in der Mittelschicht gelandet zu sein. Als könnte sie hiermit den rasanten Verlauf jener Mikroereignisse erzählend aufhalten. Zumindest schafft sie es, diesen Tag manchmal in einer superlangsamen Zeitlupe auf die Leinwand ihrer Erinnerung zu werfen. Damit hebelt sie auch ständig das musische Live-fast-and-die-young-Motiv aus, das den Rhythmus auf der Oberfläche des Textes diktiert. Dass Giraud in der 100-jährigen Geschichte des Prix Goncourt erst die 13. Frau ist, der diese Ehre zuteilwurde, kann wiederum nicht mit einem einfachen Wenn und Aber erklärt werden.Placeholder infobox-1
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