Rumänien Eine Biennale in Timișoara in Rumänien will Kunst und Wissenschaft zusammenbringen. Eigentlich lässt sich hier aber viel mehr über den vermeintlichen Osten und Westen lernen
Das Wetter ist trüb, und es regnet ein bisschen, aber man kann erkennen, dass die Landschaft um den kleinen Flughafen der Stadt Timișoara im Westen Rumäniens ziemlich flach ist. Obwohl die Stadt, die auf Ungarisch und Deutsch Temeswar heißt, ganz am Rande des Landes liegt, will sie Zentrum sein. Gerade gehört sie zu den Europäischen Kulturhauptstädten. Serbien liegt im Westen, Ungarn im Norden, und das große Land Rumänien erstreckt sich ostwärts von hier.
Hier findet zum fünften Mal die Biennale Art Encounters statt, die von Adrian Notz und einem sechsköpfigen Team von Kuratorinnen verantwortet wird. Als Maskottchen dient Albrecht Dürers Stich eines Nashorns, und auch das Konzept dreht sich unter anderem um das Rhinozeros, das
zeros, das von Indien an den Hof des Papstes reisen sollte, aber nie lebend ankam. Dürer kannte nur Beschreibungen, als er 1515 seinen Stich anfertigte – „ein frühes Beispiel von Text to Image“, sagt Notz. Eine weitere Referenz ist Eugène Ionescos Stück Die Nashörner, das gemeinhin als Sinnbild für Totalitarismus und Konformität gedeutet wird. „My Rhino is not a Myth“, deklamiert der Slogan der Biennale, und Art und Science sind auch keine Mythen, so die Variationen davon. Will sagen: gegen Mythen und für die Realität in einer vernetzten Welt.Notz ist Schweizer und war bis 2019 künstlerischer Leiter des Cabaret Voltaire in Zürich. Als kleinen Verweis auf diese Dada-Verbindung kuratierte er das berühmte Foto, das Hugo Ball zeigt, wie er dort kostümiert sein Lautgedicht Karawane vorträgt, wie eine Ikone in die Ausstellung. Es ist Teil einer Serie der slowenischen Gruppe IRWIN, die der Verbindung von Dada und orthodoxem Christentum nachgeht. In unmittelbarer Nähe spielt Ciprian Mureșans Video Choose … von 2005, in dem ein Junge Pepsi und Coke zusammenschüttet, das Glas in einem Zug leer trinkt und zufrieden schaut – ein ziemlich effektiver Witz über die vermeintlichen Wahlmöglichkeiten des Kapitalismus aus postkommunistischer Perspektive. Zwei Jahre später trat Rumänien der EU bei.Ein besonderes Anliegen ist dem Team um den Schweizer die Nähe von Kunst und Wissenschaft, was sich auf dem ISHO-Areal beobachten lässt, wo ungenutzte Büros als Ausstellungsräume dienen. Die kinetischen Arbeiten, die ein wenig an große Versuchsanordnungen erinnern, passen in ihrer Strenge gut in die neuen Räume mit den rohen Zementböden. Zum Beispiel Floriama Cândeas beinahe raumfüllende Installation, die Körperwärme und Puls am Finger der Betrachter*innen misst und in mechanische Energie umwandelt. Das ISHO-Areal ist ein Neubaugebiet, eingezwängt zwischen dem Stadtzentrum – das Cetate heißt – und dem Stadtteil Fabric. Das Gelände und eigentlich auch die ganze Stadt sollen zur Plattform für die Kunstszene Rumäniens werden.Die deutschsprachige Bevölkerung hat das Viertel einst Fabrikstadt genannt, und heute wirkt es wie ein schlafender Zwilling Timișoaras. Die Bega, ein schmaler Fluss, trennt Cetate und Fabric, sie war Transportweg für Güter und Energiequelle, und Ende der 1860er wurde in der Trabantenstadt die Pferdestraßenbahn in Betrieb genommen, die Arbeiter*innen zu den Manufakturen und wieder nach Hause brachte.So explizit wie seltenDer mexikanische Künstler Carlos Amorales hat für die Biennale eine alte Straßenbahn – elektrisch und an Oberleitungen hängend – über und über mit schwarzen Schmetterlingen aus gefaltetem Papier bedeckt, wie er es oft in seinen Installationen tut. Die Bahn startet langsam im Stadtzentrum, rattert vorbei am Ceaușescu-modernistischen Hotel Continental und an kühn-futuristischen Sportanlagen. Die Fahrt dauert eine halbe Stunde, irgendwann passieren wir, also eine Gruppe von Journalist*innen, Kurator*innen und einige der Künstler*innen, die Piața Traian, einen nach dem römischen Kaiser benannten Platz, der 1740 von Militäringenieuren angelegt wurde, so groß, dass Bataillone aufmarschieren könnten.Gerade hier hat das ein Zuhause, wovon bei der Biennale immer wieder die Rede ist: Multikulturalität. Hier lebten Serben und Deutsche, bald kamen Sinti und Roma hinzu, einst konnte man Italienisch, Französisch und Spanisch hören und in griechisch-orthodoxen, serbisch-orthodoxen, katholischen und jüdischen Gotteshäusern beten. Heute sind auf den Plätzen wenige Menschen unterwegs, nur morgens eilen die Schüler*innen ins Liceul, an den Rändern des Bezirks sinken die Fabrikantenvillen in sich zusammen. Viele der Häuser wurden nach der Revolution von den Mieter*innen gekauft, und oft waren Eigentumsverhältnisse und Verantwortlichkeiten unklar. Der Putz blättert von den Bauten aus der Habsburgerzeit, die breiten Trottoirs vor den Cafés und Palästen, vor der katholischen Kirche und der prächtigen Synagoge sind überwuchert, als hätten die Bestrebungen zur Europäischen Kulturhauptstadt diesen Ort vergessen.Aber der Stadtteil wird sich verändern. ISHO ist das Gravitationszentrum der Biennale. Bis 2012 gehörte das Gelände zu einer alten Wollfabrik, als es der Investor Ovidiu Șandor übernahm, um aus der Industriebrache ein neues Zentrum der Stadt zu machen. Die Büroräume, so sagte Șandor in einem Interview mit einem rumänischen Magazin, sollen Mieter*innen aus der Automobilindustrie und der IT-Branche anlocken. Insgesamt plant er hier neun Bauten, sechs Apartmentkomplexe, ein Parkhaus, Büros sowie ein Hotel. Das alles könnte so auch in Frankfurt am Main oder Amsterdam stehen, in den Quartieren für hochpreisige Mischnutzung, wie sie sich seit anderthalb Jahrzehnten an Europas Metropolen anlagern, als müssten deindustrialisierte und neu vermarktete Stadtviertel überall gleich aussehen. Im Norden verläuft der fünfspurige Bulevardul Take Ionescu, weitere Verkehrsachsen sind in Planung, und die noch leer stehenden Räume werden jetzt für die Biennale genutzt. Die verbauten Materialien, erklärte Șandor im Interview, kommen aus dem Westen: italienische Fliesen, Sanitäranlagen von Villeroy & Boch in Deutschland.Șandor ist Kunstsammler – Werke aus seiner Sammlung rumänischer und internationaler Künstler*innen sind derzeit in der Kunsthalle Prag zu sehen – , und er ist Gründer der Art Encounters Foundation, die neben der rumänischen Kulturstiftung die Biennale ausrichtet und die gleich beim ISHO-Gelände in einem übrig gebliebenen Altbau ihr Hauptquartier hat. Auf die Frage, wie es zu dieser Zusammenarbeit kam, sagt Șandor, dass Kunst seine Leidenschaft sei, aber er sei nebenbei auch Immobilienentwickler. Man kann schon sagen, dass diese Biennale, die unter anderem von der Europäischen Union und der Stadt Timișoara kofinanziert wird, ohne den Immobilienmogul ganz anders aussähe. Aber vielleicht liegt gerade hier das Irritierende. Das Verschwinden von Industrie und die Immobilienaufwertung durch Kunstausstellungen laufen normalerweise unausgesprochen zusammen, und der Wunsch zur rapiden Veränderung ganzer Stadtquartiere wird selten so explizit gemacht.Dabei erstreckt sich schon ein bescheidenes Netz von Projekträumen über die Stadt. Gleich neben ISHO ist Multiplexity ansässig, ein Straßenbahndepot aus dem Jahr 1927, das eigentlich im Rahmen der Initiative zur Europäischen Kulturhauptstadt renoviert werden sollte, bisher aber nicht fertig geworden ist. Dafür ist es zur Kulisse einer herrlich versponnenen, postapokalyptischen Schnitzeljagd mit Videos und Skulpturen zwischen stillgelegten Trams aus lange vergangenen Jahrzehnten geworden, die der Künstler Sebastian Moldovan hier installiert hat.Das heimliche Zentrum der Biennale liegt aber im ehemaligen Garnisonsgebäude am Platz der Freiheit, wo während der rumänischen Revolution von 1989 die Panzer gegen Demonstrierende rollten. Die Ausstellung erscheint wie ein Gegenprogramm zu den etwas unterkühlt wirkenden kinetischen Skulpturen auf dem ISHO-Gelände. Zheng Bos Videos mit Pflanzenerotika werden hier gezeigt. Überbordend und oft queer ist diese Schau, so wie Patricia Kaliczkas gegenständliche Gemälde, die Figuren unbestimmten Geschlechts in Posen von sanften Krieger*innen zeigen, oder die Bilder von Veronika Hapchenko. Die in Kiew geborene Malerin setzt sich in ihren unscharfen Bildern mit dem russischen Kosmismus auseinander, einer futuristisch-esoterischen Strömung, die den Tod abschaffen wollte und vor und nach 1917 großen Einfluss auf die Avantgarde hatte. Dabei knüpfen Hapchenkos Werke ebenso an ganz zeitgenössische Diskurse um Mystizismus und Witchcraft an. Die Härte des russischen Angriffskriegs bricht mit Zhanna Kadyrovas Arbeit Russian Rocket in die Ausstellung ein, bei der die ukrainische Künstlerin eine kleine Rakete auf Zug- und Flugzeugfenster geklebt und gefilmt hat: Krieg kann überall in Europa sein.Beim Frühstück in einem Café unweit der alten Garnison sagt der Bürgermeister von Timișoara: „Die EU wird nur überleben, wenn wir die Trennung von Ost und West überwinden.“ Rumänien ist seit 2007 EU-Mitglied, aber immer noch nicht Teil der Schengen-Zone – dieser Betritt scheiterte, weil Österreich Ende vergangenen Jahres an seinem Veto festhielt. Dominic Fritz, 39, in Lörrach geboren, wurde vor zwei Jahren ins Amt des Bürgermeisters gewählt. Er steht vielleicht für eine neue Generation in der EU-Politik: mobil, international ausgebildet und mit einem besonderen Gespür für Kulturpolitik und Soft Power. Damit ähnelt er ein bisschen internationalen Starkurator*innen. Er jedenfalls hofft, dass die Energie der Biennale Art Encounters erhalten bleibt.Osten, Westen, Zentrum und Peripherie, diese überhaupt nicht neutralen Begriffe laufen bei Großausstellungen wie dieser stets mit. Mit dem Ende des 20. Jahrhunderts wurden die Biennalen immer mehr, zu einer Zeit, als der Begriff „Globalisierung“ eine steile Karriere hinlegte, genauso wie der Berufsstand internationaler Kurator*innen, deren Projekt es war, die großen Narrative aus dem Zentrum zu stoßen und Biennalen außerhalb der etablierten Zentren zu veranstalten: Baltikum, Athen, auch die Wanderbiennale Manifesta suchte nach dem Neuen an den Rändern Europas. Aber diese Rhetorik von Peripherie und Zentrum wird zunehmend problematisch, und das Biennale-Modell ächzt unter seinen Widersprüchen. Vielleicht versucht Art Encounters hier tatsächlich etwas Neues, indem die Ausstellung Künstler aus der vielgestaltigen Region um Timișoara versammelt. Ganz sicher kündigt sich hier aber eine neue Rhetorik um Biennalen an, eine, die Nachhaltigkeit in den Mittelpunkt stellt.Placeholder infobox-1