Isa Genzken in der Neuen Nationalgalerie: Immer einen Tick zu früh
Kunst Isa Genzkens Karriere ist so vielgestaltig, dass man den Überblick verlieren kann. Die Neue Nationalgalerie in Berlin bringt mit der Ausstellung „75/75“ ihr Werk unter ein Dach
Isa Genzkens Karriere ist vielgestaltig, und kunsthistorisch betrachtet sind ihre Werke immer ein bisschen verschoben, immer ein bisschen zu früh. Und trotzdem haben sie ihren Platz, in New York und im Deutschen Pavillon in Venedig, auf Biennalen und in Galerien, und jetzt, für einen Sommer, in der Neuen Nationalgalerie in Berlin.
Das Berliner Museum zeigt eine Retrospektive der Künstlerin, Anlass ist ihr 75. Geburtstag Ende November. Das ist natürlich nicht die erste Berliner Ausstellung der in Bad Oldesloe geborenen Künstlerin. Man kann zum Beispiel an die Schau 2016 im Martin-Gropius-Bau denken, auch an viele Gruppenausstellungen. Dreimal war sie bei den Skulptur Projekten in Münster vertreten und auf der Venedig Biennale gleich etliche Male.
Genau von Westen
Placeholder image-1Genau von Westen her, da, wo sie untergeht, scheint die Sonne in die Neue Nationalgalerie, unweit des Potsdamer Platzes in Berlin, und damit weiß man schon viel über diese Architektur von Mies van der Rohe. Denn so bekommt der Bau, der 1968 eröffnet, 2015 geschlossen und bis 2021 renoviert wurde, eine sakrale, tempelhafte Aura. Er ist eines jener Gebäude, die man oft ikonisch nennt, man könnte auch sagen: heroisch, unbescheiden, radikal modern. Glasfenster, so groß, dass es weltweit nur eine Firma gibt, die Scheiben dafür herstellt, eine gewaltige, 1.260 Tonnen schwere Stahlplatte als Dach, ein stützfreier, quadratischer Innenraum, ein Raster auf dem Boden, das sich im Außenraum fortsetzt, zwei rätselhafte Monolithen aus Verde-Tinos-Marmor, den Mies van der Rohe immer wieder verwendete, all das ergibt ein minimalistisch-lautes Statement in Berlin, für das der Bauhäusler noch einmal aus den USA zurückkehrte, wo er mittlerweile in Chicago und New York Wolkenkratzer baute.Diese Details sind wichtig, wenn man ein wenig in Genzkens Werk eintauchen will. Ihre Retrospektive beginnt chronologisch und man kann in der Überblicksschau ihrer Laufbahn anhand von Skulpturen folgen, die beinahe entlang des Rasters von Mies van der Rohes poliertem Steinboden angeordnet sind. Man kann ihnen in einer Zickzackbewegung nachgehen, aber es gibt weder Wände noch einen vorgegebenen Parcours, nur Eingang und Ausgang.Kuratiert wurde die Ausstellung von Lisa Botti und Klaus Biesenbach, neuer Direktor des Hauses seit vergangenem Jahr. So vielgestaltig Genzkens Objekte sind, die meisten sind irgendwie anthropomorph, und selbst die kleineren Arbeiten sind augenhoch auf selbst geschweißten Stahlgestellen platziert, die an Joseph Beuys’ Vitrinen erinnern. Man fühlt sich stets ein wenig beobachtet von den Skulpturen, die bei Sonnenuntergang schillern und lange Schatten werfen.Eine ganz und gar männerdominierte StrömungAusgenommen davon sind die ältesten, die Ellipsoide und Hyperboloide, beides längliche Objekte. Erstere liegen an einem Punkt auf dem Boden, letztere an zweien. Damit begann Genzken in den frühen 70ern, noch an der Kunstakademie Düsseldorf. Die exakten Kurven der Stücke berechnete sie mit einem Physiker der Uni Köln und zeichnete sie dort an einem Computer. Sie schuf serielle Objekte, die sich bestens in das minimalistische Klima jener Jahre einfügten. Nur, dass gerade diese Strömung zu jener Zeit ganz und gar männerdominiert war, besonders in Düsseldorf, wo der junge Galerist Konrad Fischer eine Art Brückenkopf für die amerikanischen Minimal Artists bildete: Carl André legte Metallplatten auf den Boden, um einer Monumentalisierung zu entgehen, Bruce Nauman ließ gleich die Performer*innen lange auf dem Boden liegen, damit sie den schieren Raum ganz neu erfahren mögen.Genzkens Skulpturen jener Jahre sehen aus wie etwas, das aus einer Flugzeugfabrik kommt, sind aber im Atelier der Künstlerin gefertigt. In Berlin sind jetzt vier davon zu sehen, drei aus Holz, eine aus Epoxidharz.Damit ließe sich schon eine mehrere Jahre währende Künstler*innenkarriere bestreiten, aber Ende der 70er geschah etwas. Erst fotografierte Genzken Werbung für Hi-Fi-Produkte, was man als eine zeittypische Pop-Geste interpretieren kann, und sie zeigte die Bilder zusammen mit ihren Skulpturen. „Das Ellipsoid muss mindestens so gut sein wie diese Werbung. Mindestens so gut. So gut muss eine moderne Skulptur sein“, sagte sie zu ihrem Freund, dem Fotografen Wolfgang Tillmans, viele Jahre später. Damit war der Grundstein für ihre Serie Weltempfänger gelegt. Der erste davon war tatsächlich noch ein Radio, auf das sie eine zweite Antenne setzte: Appropriation und Readymade, alte Avantgarde-Strategien. Später goss sie die Geräte aus Beton, auch davon sind viele mit zwei Antennen ausgestattet, wie zarte Fühler von Insekten, die senden und empfangen. Ein besonders anrührendes Objekt von 1984 trägt den Titel Mein Gehirn. Genzken modellierte ein Gehirn aus Gips, mit einer dünnen gebogenen Drahtantenne, wie ein organischer Weltempfänger.„Fuck Bauhaus“ hieß ihre Ausstellung im Jahr 2000Beton blieb in Genzkens Repertoire, Gips kam hinzu. Sie goss ihre Arbeiten im eigenen Studio, sie richteten sich auf, sie ließen immer wieder an architektonische Entwürfe denken, wie Le Corbusiers totalisierende Vision für Paris oder, noch naheliegender, an Mies van der Rohes Konzept für einen Glaswolkenkratzer in Berlin – von 1921 – , das nie realisiert wurde. In der zweiten Hälfte der 80er kann man, wenn man will, überall in Genzkens Werk Bezüge zur Architektur entdecken. Dabei ist das Verhältnis schwer zu deuten: Sind die Stücke Hommagen, Kritiken oder beides? Fuck the Bauhaus hieß eine Ausstellung im Jahr 2000.Genzkens Künstlerkollege Wolf Vostell sagte etwa zur selben Zeit, Beton sei längst kein wertfreies Material mehr, es sei Symbol einer Versteinerung der modernen Welt. Zumindest in Genzkens Werk schien sie 1990 durchbrochen, anstelle von massiven Betonwänden machte sie Fenster. Jeder braucht mindestens ein Fenster, so der Titel einer Ausstellung, die Anfang der 90er durch Nordamerika und Europa tourte.Mies van der Rohes Barcelona Chair hängt hilflos von der DeckeGenzken und ihre Arbeit sind in Städten zu Hause. Schon im Studium war sie in New York und immer wieder bezieht sie sich auf Berlin, tief in ihre Skulpturen schreibt sich die schwer fassbare Erfahrung ein, was es bedeutet, an diesen Orten und in einem intensivierten Kapitalismus zu leben. Ab den 90ern explodieren ihre Arbeiten in farbenfrohen, schillernden Assemblagen. Wie eine augenzwinkernde Referenz an Mies van der Rohe schwebt in Berlin einer seiner Barcelona Chairs hilflos von der Decke hängend vor dem grünen Marmor, Philippe-Starck-Stühle werden fest mit Folio umwickelt, Pizzakartons wandeln sich zu Architektur, Spielzeugfiguren und -autos allenthalben. So wie einst die Dadaisten den subjektiven Effekt der Warenwelt überzeichneten, wird bei Genzken irgendwann, so schreibt der Kunsthistoriker Hal Foster, das Gerümpel zum Modus der Arbeit. Und man kann das Gefühl bekommen, dass Designobjekte, Spielzeug, Baumarktmaterial, alles gleich zu Müll erklärt wird. Aber umgekehrt kommt bei Genzken auch jeder Werkstoff zu seinem Recht.Für ihre Ausstellung Ground Zero von 2008 schuf Genzken Vorschläge, wie die Lücke mitten in Manhattan gefüllt werden kann. Nur sind diese Modelle extrem prekär, auf Rollen und MDF-Platten balancierend, manche sind mit Netzmaterial umwickelt – wie sie es ein Jahr zuvor mit dem Deutschen Pavillon auf der Venedig Biennale tat –, bei anderen stehen Blumensträuße obenauf. Das ist impraktikabel und unmöglich zu realisieren, aber Isa Genzken verrät sich bei all dem Spiel: Sie hat ein ernsthaftes Interesse an Öffentlichkeit und Stadt. In kaum einer Werkreihe wird das so deutlich wie an ihren stählernen, acht Meter hohen Rosen, die jedes Gefühl für Maßstäbe verwirren. Die erste gestaltete sie 1993, die neueste ragt nun vor der Neuen Nationalgalerie aus der Terrasse: weithin sichtbar, wie eine Einladung.