Am Ende ist es nur ein Trunkenbold, vielleicht 20, mit Jeans, Pullover und torkelndem Gang, der Derrys Menschenrettern auffällt. Über die Promenade am Foyle wankt er im Orange der Laternen. Die Beschützer mustern diese letzte Menschenseele am frühen Morgen: keiner, der sich dem Fluss nähert, zu weit hält er Abstand zum Kai. „Der hatte nur eine vergnügliche Nacht“, frotzelt Dustin*, knarzige Stimme, kurze Haare. Zu viel Guinness womöglich, gehoben in den Pubs der Altstadt von Derry, das offiziell Londonderry heißt.
Im Dutzend sind sie zuvor unterwegs gewesen, die Frauen und Männer von Foyle Search and Rescue. Zu Fuß, in Jeeps, auf Motorbooten. Die Begegnung mit dem jungen Mann war der Schlusspunkt ihrer Patrouille, gesetzt an einem Abschnitt des Uferwegs, den Bürohäuser, Apartmentkomplexe und Hotellerie säumen. Eine glatte Kulisse im sonst rustikalen Derry. Dort vertreten sie sich nach einer Nervenschlacht die Beine. Die Ehrenamtler, tagsüber Kellner und Pfleger, Kaufleute und Soldaten, haben zuvor nach Lebensmüden geschaut, die sich in den Foyle stürzen könnten, jenen Fluss, der durch Nordirlands Grenzstadt fließt. Ein A-Team, das sich gegen Depressionen stemmt. Vernetzt mit Beamten von Sicherheitsbehörden, die auf Monitore blicken, bebildert mit Aufnahmen aus dem örtlichen Überwachungssystem.
In dieser Donnerstagnacht sind Gratwanderer den Uferwegen und drei Brücken ferngeblieben; ein Dienst am Abgrund war das Ganze dennoch. Wie jedes Mal, wenn sie den Foyle und seine Umgebung inspizieren, immer donnerstagabends zwischen 22 Uhr und drei Uhr morgens, und in den Wochenendnächten. Die Statistik, die ihren Alltag festhält, hängt im Vereinshaus, 20 Victoria Road, eine Adresse am östlichen Flussufer: eine Excel-Tabelle – an einer Pinnwand im Aufenthaltsraum befestigt, wo die Wohltäter zwischen ihren Schichten pausieren, bei Tee und fettigen Pizzen.
490 Einsätze gab es demnach allein im vergangenen Jahr, 50 Prozent mehr als im Vorjahr. Darunter neun Tote; 35 Menschen, die aus dem Gewässer gerettet worden sind; 197, die an den Rändern standen, mit düsteren Gedanken offenbar. Dazu 248, die vielleicht schwermütig waren, vielleicht auch nur benebelt vom Alkohol – nicht so unauffällig allerdings wie der besoffene Youngster, der in Derrys herausgeputzter Neustadt aufgekreuzt ist. In diesen zwölf Monaten riefen sie Taucher der Polizei, Notärzte, den nicht ganz so Labilen reichten sie die Karte eines Krisendienstes. Die Bilanz spiegelt eine Entwicklung, die Derrys Politiker, Sozialarbeiter und Seelsorger eine „Gesundheitskrise“ nennen. Die Suizidrate ist in Nordirland etwa um die Hälfte höher als im übrigen Britannien – 17,3 pro 100.000 Einwohner. Werbeflächen in den Straßen sind mit den Slogans von Aufklärungskampagnen plakatiert.
Die Leute von Foyle Search and Rescue sind teilnehmende Beobachter. Manchmal verarbeiten sie auch eigene Trauer. Zum Beispiel der 50-jährige Ryan*, ein Altenpfleger: Er verlor einen Freund. Ein Akt der Verzweiflung, nachdem seine Lebensgefährtin sich von ihm getrennt hatte. Am Geländer einer Brücke hatte die Ex-Freundin noch seine Hand greifen können. Er rutschte trotzdem ab.
Boys don’t cry
„Boys don’t cry“, sinniert er, Jungs weinen nicht, als er während der Patrouille mit zwei Kompagnons im röhrenden Hightech-Motorboot über den Foyle schießt. Im Fahrtwind erörtert er das Dilemma des männlichen Geschlechts: „Wenn Mädchen auf dem Spielplatz vom Gerüst fallen und weinen, werden sie von Mummy getröstet. Wenn sich Jungs weh tun, dürfen sie keine Träne verdrücken.“ Ein Druck, der krank machen könnte: Rund 60 Prozent der Einsätze von Foyle Search and Rescue im vergangenen Jahr galten Kerlen.
1993 haben sich die Ehrenamtler gegründet, über weltanschauliche Lager hinweg. Damals wurde bereits ein erhöhtes Selbstmordrisiko registriert, am Fluss, anderswo in der Stadt. Die Mission der Heroen, mehr als 4.000 Einsätze umfangreich, hat sich bis zum Papst herumgesprochen. Franziskus vermachte Foyle Search and Rescue nach seinem Irland-Besuch 2018 eines seiner Papamobile, einen dunkelblauen Škoda Rapid.
Das Team verrichtet sein Werk in einer Stadt, die Brennglas für das Gefühlsaggregat einer ganzen Region ist. 1969, vor etwas mehr als 50 Jahren, entflammte in Derry nach Straßenunruhen der Nordirlandkonflikt: der Häuserkampf zwischen london-treuen Unionisten, die zu den Waffen griffen, und Republikanern, die eine Vereinigung mit dem angrenzenden Irland durchfechten wollten. Der „Bloody Sunday“, der drei Jahre später Derrys Stadtteil Bogside erschütterte, eine Hochburg des Widerstands gegen die Krone, nährte den Terror. Britische Soldaten hatten 13 Menschen während einer Demonstration getötet. Die nächsten Dekaden: eine Spirale der Gewalt.
Das Karfreitagsabkommen vom April 1998 sollte den Konflikt beenden. Dennoch ist die Stadtgesellschaft noch immer Geisel der Vergangenheit. Das heutige Lebensgefühl verschärft den psychosozialen Stress, auch unter Teenagern und Twentysomethings. Die Arbeitslosenquote unter Jugendlichen in der strukturschwachen Stadt zählt zu den höchsten in Großbritannien. 95 Prozent der jungen Menschen sehen hier keine Zukunft. Zugleich darbt die öffentliche Hand – nirgends im Vereinigten Königreich tröpfeln so wenige Pfund in den Gesundheitssektor wie in Nordirland: eine Unterdosierung der Haushaltsplaner im Tory-Kabinett, die symptomatisch ist. Regierende in London halten die 85.000-Einwohner-Stadt seit jeher für ein weltfernes Provinznest. Ein Mangel an Therapeuten und medizinischen Einrichtungen ist die Folge. Post-Thatcherismus, der töten kann.
Derry ist Schauplatz dafür, wie Europas Ränder in den Machtzentren aus dem Blick geraten. Der Brexit könnte den Frieden ankratzen – auch wenn im neuesten Deal, den Boris Johnson dem Unterhaus zur Abstimmung aufbürdet, das Worst-Case-Szenario ausgespart worden ist: lähmende Binnengrenzen zwischen dem nordirischen Landeszipfel und der Republik Irland. Waren sollen erst an den Häfen dies- und jenseits der Irischen See verzollt werden.
In der Ulster University, der Hochschule Derrys, wird die Seele der Einwohner vermessen. Die Kartografin ist Siobhan O’Neill, eine Psychologie-Professorin: Die Mittvierzigerin hat die größte Studie veröffentlicht, die den Nordiren jemals ins Unterbewusstsein geblickt hat. In einem Konferenzraum des Hauptgebäudes, einem viktorianischen Prunkbau, führt sie uns ein in die Kämpfe ihrer Landsleute.
Zwei Wochen zuvor hat sie noch ein wissenschaftliches Gipfeltreffen mitorganisiert: den Weltkongress der Internationalen Vereinigung für Suizidprävention (IASP), der 2019 in den Veranstaltungshallen und Kulturstätten der Stadt tagte. „Mauern einreißen – Brücken brauen“ lautete das Motto. Ihr Forschungsgegenstand: das Posttraumatische Stresssyndrom (PTSD), das im emotionalen Ballast vieler Nachkriegsgesellschaften wirkt. 39 Prozent der nordirischen Bevölkerung sind während der sogenannten „Troubles“ traumatisiert worden. Eine Quote, höher als im Libanon oder in Israel. „Wer einmal traumatisierende Gewalterfahrungen gemacht hat, tut sich später meistens schwerer, Lebenskrisen zu bewältigen, Jobverlust, Trennungen, Probleme durch eine Suchterkrankung“, sagt sie. „Das Trauma kann in einer Lebenskrise der eine Faktor zu viel sein, der zu einem Suizidrisiko führt.“
Freier Warenfluss
Grenzfragen Der sogenannte Backstop (eine Notlösung, um eine harte Grenze zwischen Irland und Nordirland zu vermeiden) ist Dreh- und Angelpunkt der Brexit-Verhandlungen gewesen. Tritt das Vereinigte Königreich aus der EU aus, wird die innerirische Grenze zur EU-Außengrenze. Die Befürchtung: Eine harte Grenze auf der irischen Insel könnte alte Konflikte erneut anheizen.
Die kurvige, 500 Kilometer lange Grenze verlief bis Ende der 1990er Jahre zwischen Londonderry und Warrenpoint. Würde sie wieder undurchlässiger werden, wären tägliche Abläufe in Gefahr. Im größten Krankenhaus von Derry kommen heute fast 70 Prozent der Krankenschwestern aus der irischen Republik. Coca-Cola produziert in Irland, die Flaschen werden aber in Nordirland abgefüllt und dann wieder zurück über die Grenze gebracht.
Die seelischen Verletzungen, eingebrannt nach dem Anblick von Bomben in der Nachbarschaft, können von Eltern an Kinder weitervererbt werden – indem sie zu Hause neue Traumata erschaffen. Ein weiteres Phänomen sei, dass traumatisierten Müttern oder Vätern die emotionale Stabilität fehle, um Geborgenheit zu vermitteln. Handelt es sich um Trigger ohne Verfallsdatum? „In Nordirland wächst eine junge Generation heran, deren Eltern die Troubles aus nächster Nähe erlebt haben“, warnt O’Neill. Manchmal waren Väter selbst Akteure.
Eine Frau, die das generationenübergreifende Vermächtnis zum öffentlichen Thema gemacht hat, ist vor Kurzem gestorben: die Journalistin Lyra McKee, 29, eine Repräsentantin der LGTBIQ-Community, eine Stimme ihrer Generation. Ihre Artikel, ob in Lokalzeitungen oder für Buzzfeed, waren pazifistische Plädoyers. Getötet wurde sie während Krawallen in diesem Frühjahr.
Am 18. April dieses Jahres hatte sich McKee in einen Straßenkampf zwischen Polizeibeamten und republikanischen Rebellen gemischt – in Creggan, einem Teil Derrys, wo Reihenhäuser und Kreisverkehr beinahe Provinz-Idylle verströmen. Nur Masten mit Irland-Flaggen, gerammt ins Randgrün, künden von Renitenz gegen den politischen Status quo. Während der Krawalle brannten Polizeiautos, flogen Benzinbomben. Ein maskierter Schütze feuerte in einen Pulk von Beamten und traf dabei Lyra McKee; zu den Schüssen hat sich später die „Neue IRA“ bekannt. Sie entschuldigte sich für den Tod der Journalistin.
Ein vieldiskutierter Artikel McKees, erschienen 2016, erforscht die Psyche ihrer Generation – im Mahlstrom der eigenen Biografie. „Suicide of the Ceasefire Babies“heißt er, „Suizid der Kinder des Waffenstillstands“. Darin erinnert sich Lyra McKee an ihre Jugend im Belfast der nuller Jahre, die sie in der Nähe eines Straßenzugs verbrachte, der ein Pandämonium des Bürgerkriegs war, von den Einheimischen „Murder Mile“ genannt. Sie beschreibt die inneren Konflikte der örtlichen Millennials, darunter die Selbsttötungsversuche ihres besten Freundes Jonny.
Und entfaltet dabei das Porträt einer Alterskohorte, die als Babys und Kleinkinder täglich mit Gewalt konfrontiert war, in der nordirischen Kapitale, in Derry oder anderswo, die aber später den Frieden erlebte. Die ältere Generation exkommunizierte die Spätgeborenen aus der Gemeinschaft der kollektiv Trauernden: „Diejenigen, die die Troubles überlebt hatten, nannten uns die Ceasefire Babies, als wären sie missgünstig, weil wir ohne den Klang von Gewehrschüssen aufgewachsen waren, sie nahmen an, dass wir keine Toten zu betrauern hatten wie sie. Aber das hatten wir.“ Das stumme Leid hat sich in die Seelen gefressen. Von den 3.709 Nordiren, die sich zwischen 1998 und 2014 das Leben genommen haben, war ein Fünftel noch keine 25 Jahre alt.
„Noch immer besetzt“
Ein Nordire aus Lyra McKees Generation sitzt in der Zentrale einer politischen Organisation, die im Visier der Behörden gewesen ist: Paddy Gallagher, 27, radikaler Jungpolitiker mit Seitenscheitel und kerzengerader Statur. „Wir sind Teil einer revolutionären Bewegung gegen die politischen Verhältnisse“, dekretiert er. „Nordirland ist immer noch unter britischer Besatzung.“ Als 1998 das Friedensabkommen unterzeichnet wurde, war Gallagher ein Primarschüler, der das ABC lernte. Er ist Sprecher einer Partei namens Saoradh, gälisch für „Befreiung“. Der parlamentarische Arm der „Neuen IRA“, sagen Behörden.
Das Domizil der „Befreiung“ ist ein gedrungener Bau im Stadtkern Derrys, ein Treff von Veteranen und ihren Nachgeborenen. Das Haus ist nach dem einstigen IRA-Offizier Junior McDaid benannt, erschossen 1972 von britischen Soldaten, an der Grenze zwischen Derry und Donegal, am Fuß einer Gebirgskette. Am 7. Mai dieses Jahres haben Polizisten das Gebäude durchsucht und Gegenstände beschlagnahmt; ein paar Tage später wurde ein 39-Jähriger aus Creggan festgenommen, dem Schauplatz der tödlichen Krawalle im April. Mittlerweile ist er angeklagt. Der Mann, der offenbar mit der Saoradh-Partei sympathisiert, soll in die Angriffe gegen Beamte verwickelt gewesen sein und mindestens sechs Benzinbomben geworfen haben.
Den Mörder von Lyra McKee haben die Fahnder immer noch nicht gefunden. Gallagher, der Öffentlichkeitsstratege der Partei, sagt: „Der Vorwurf, dass wir etwas mit dem Tod von Lyra McKee zu tun haben, ist eine Lüge.“ Er und seine Genossen verstehen sich als Aufgebot gegen Armut und Perspektivlosigkeit. Das Licht am Horizont: ein vereintes, sozialistisches Irland. Sie hassen die Nachkriegsordnung, getragen von Sinn Féin, einer Partei mit sozialdemokratischem Profil, und der konservativen DUP.
Zugleich gibt Gallagher den Pater der Stadtbevölkerung: „Wir erleben eine Epidemie von Suiziden. Es fehlen öffentliche Investitionen und eine gute Infrastruktur. Stadtteile segregieren, zu viele Menschen verlieren die Hoffnung.“ Die Arbeit von Foyle Search and Rescue heiße er gut. Im Empfangsraum betreibt eine Gefangenenhilfe, die „Irish Republican Prisoners Welfare Association“, einen Charity-Shop mit Devotionalien. In der Auslage liegen Poster von Partisanen, Sturmmützen und T-Shirts. Im Hintergrund tönt der Refrain eines verwaschenen Folk-Songs: „The I – the I – the IRA“. Ein Backflash der Troubles.
Der Konflikt mit seiner drückenden Last, er verbindet sie alle: die militante Unabhängigkeitsbewegung, die Progressiven wie Lyra McKee, die getötete Journalistin. Und womöglich auch einige, deren Namen in den Statistiken der überparteilichen Samariter von Foyle Search and Rescue eingetragen sind.
Wodka und Take That
Im restlichen Großbritannien hellt sich das Bild der Stadt mancherorts auf. Das Image poliert eine populäre Fernsehserie. Derry Girls heißt sie, eine TV-Sitcom, die im Derry der mittleren 1990er Jahre spielt und das damalige Epizentrum des Nordirlandkonflikts zur Kulisse für bonbonfarbene Comedy macht. Sie handelt vom Leben einer Mädchenclique, die im katholischen Teil der Stadt pubertiert, zwischen Flirts, Wodka und Take-That-Anhimmelei. Militärische Auseinandersetzungen spielen nur im Hintergrund eine Rolle. Die Serie war so quotenstark, dass Netflix sie mittlerweile streamt. Auch auf dem europäischen Festland ist sie populär geworden. Die nassforschen Heldinnen, Erin, Clare, Orla und Michelle, sind Botschafterinnen eines neuen nordirischen state of mind: Sie verkörpern eine Gesellschaft, die ihr Schicksal mit Humor nimmt.
Ein Therapeutikum, das die Folgen des schweren Erbes ebenfalls lindern könnte, wird demnächst in der Umgebung des Flusses wirken, der Symbol der unverarbeiteten Vergangenheit ist. Eine Farbexplosion – etwa mit Hilfe von künstlichem Schilf an den Geländern einer Autobrücke, die Suizidgefährdete anzieht. Mehrere Meter hoch, ein bunt illuminierter Wonderwall. Andere Pigmente: Sitzbänke in kleinen Gehäusen, umrankt von Pflanzen, aufgestellt an den Promenaden der Innenstadt.
Einsame könnten dort aus der Isolation finden. „Our Future Foyle“ heißt das Projekt, das die Objekte bis 2020 hervorbringen soll. Es wird getragen von Gestaltern der Design-Fakultät am Londoner Royal College of Art. Die Menschen, die die Retter von Foyle Search and Rescue vom Sog des Stroms abgehalten haben, werden die Stimmungsaufheller wahrscheinlich nicht mehr brauchen. „Alle waren später dankbar, gerettet worden zu sein. Viele sagten, es hätte sich angefühlt, als ob sie ein neues Leben geschenkt bekommen hätten“, sagt ein Mitglied der Patrouille.
* Namen geändert
Info
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