Aufstand am Krankenbett

Grossbritannien Ihre Gesundheitsreform könnte der regierenden Labour Party noch größeren politischen Schaden zufügen als der Irakkrieg

Noch nie hat eine britische Regierung so viel Geld in das Gesundheitswesen gesteckt - und doch werden Krankenhäuser geschlossen, Entbindungsstationen und Notaufnahmen verlegt. Der Widerstand dagegen wächst und erinnert in manchem an die Proteste gegen die Gemeindesteuer-Reform, die einst Margaret Thatcher zu Fall brachte.

London hat schon größere Demonstrationen erlebt als diese Kundgebung, zu der an diesem Novembertag mehrere Tausend Ärzte, Krankenpfleger, Hebammen und Verwaltungsangestellte zum Parlament in Westminster gezogen sind. Doch die Aktion - sie findet an einem Arbeitstag statt - ist auf ihre Art nicht weniger aufsehenerregend. Die Demonstranten verlängern ihren Protest ins Unterhaus hinein, in dem eine Debatte über die Gesundheitspolitik der Regierung Blair stattfindet. Hunderte ziehen in die Lobby und lassen dort ihre lokalen Abgeordneten ausrufen, um ihnen höchstpersönlich die Meinung zu sagen über eine Reform, die große Teile der Bevölkerung in Aufruhr versetzt hat. Und die in drei Jahren so manchem Labour-Parlamentarier das Mandat kosten könnte.

In der Unterhausdebatte verteidigt der Premierminister ("die Reformen sind Teil eines notwendigen Wandels") seinen Kurs. Oppositionsführer David Cameron von den Konservativen hingegen wettert gegen Labours Politik, als hätte er aus Versehen das Redemanuskript eines Gewerkschafters erwischt. Dass sich ausgerechnet die Tories für das staatliche Gesundheitssystem stark machen, zeigt, wie tief der Unmut mittlerweile reicht. Noch vor wenigen Jahren haben die Konservativen selbst den National Health Service (NHS) zerschlagen wollen, mittlerweile jedoch - anders als das Kabinett und Labours Gesundheitsministerin Patricia Hewitt - erkannt, welche politische Sprengkraft der leise Aufstand birgt. Daraus lässt sich politisches Kapital schlagen. Überall im Land rebellieren immer mehr Menschen gegen die Kürzungen im Gesundheitswesen, gegen geschlossene Spitäler und für den Erhalt von gynäkologischen Stationen, Notaufnahmen und psychiatrischen Abteilungen in ihren lokalen Krankenhäusern.

In Haywards Heath (West Sussex) zogen Mitte Oktober 7.000 Menschen durch die Straßen der Kleinstadt; 40.000 unterschrieben eine Petition gegen geplante Kürzungen beim örtlichen Spital. In Worthing, ebenfalls West Sussex, waren sogar 10.000 unterwegs; 5.000 bildeten eine Menschenkette rund um ihr Krankenhaus. Weiter oben im Norden, in Grantham (Grafschaft Lincolnshire), marschierten 8.000 für den Erhalt der Notfallstation. In Burnley, Huddersfield, Manchester, Banbury, Dover und weiteren 150 Gemeinden Englands haben Gesunde wie Kranke im vergangenen halben Jahr protestiert, Unterschriften gesammelt, an Abgeordnete geschrieben und Spitäler umstellt.

"Seit dem Widerstand gegen Margaret Thatchers Poll-Tax hat es keine so breite und lang anhaltende Basisbewegung gegeben", sagt Geoff Martin von der gewerkschaftsnahen Kampagne HealthEmergency. Ende der achtziger Jahre hatte die damalige Premierministerin ein neues Gemeindesteuersystem einzuführen versucht, das alle - ob reich oder arm und arbeitslos - gleichermaßen belasten sollte. Der Sturm, der daraufhin losbrach, führte zu ihrem Sturz. Dies könne nun auch Labour blühen, glaubt Martin. "Dabei müssten sie eigentlich wissen, welch hohe Wertschätzung der NHS genießt."

Gewinner und Verlierer

Ende der neunziger Jahre war das der Partei noch bewusst. Im Wahlprogramm von 1997 stand die Verteidigung des staatlichen Gesundheitswesens an oberster Stelle. Der NHS werde in seiner bestehenden Form beibehalten, versprach Blair damals. Dass er die Wahl so haushoch gewann, lag auch an dieser Zusage. Danach änderte sich zunächst nicht viel, der NHS blieb unterfinanziert - bis die Labourspitze Ideen der Tories aufgriff und mit großer Wucht vorantrieb. Sie änderte ihre Investitionspolitik, vervielfachte die Zahl der Privaten Finanzierungsinitiativen (PFI) und begann, im Gesundheitswesen Marktmechanismen einzuführen. Nur der Markt und die damit verbundene Konkurrenz der staatlichen Spitäler untereinander sowie mit den Krankenhäusern der privaten Krankenversicherer könne das System effizienter machen und eine bessere Versorgung bewirken, hieß es plötzlich bei der Arbeiterpartei.

"Daran glaubt die Labourführung noch heute", meint Allyson Pollock, Professorin des Zentrums für öffentliche Gesundheitspolitik an der Universität Edinburgh, "doch den Beweis ist sie bisher schuldig geblieben. Denn alle Reformen zeigen in eine ganz andere Richtung." Der NHS-Umbau sei ein Paradebeispiel dafür, was das neue Modell bewirke: "Der Markt schafft Gewinner und Verlierer." Und wer gewinnt und wer verliert, stehe bereits fest.

In einem ersten Schritt beschloss die Regierung, alle Neuinvestitionen Privatfirmen zu überlassen und gab dem NHS Anweisung, künftig nur noch PFI-Verträge zu unterzeichnen. Diesen Verträgen zufolge finanzieren private Bauunternehmen und Finanzgesellschaften den Neu- oder Ausbau von NHS-Spitälern und erhalten dafür und für die Wartung der Einrichtungen von der staatlichen NHS-Behörde über 30 Jahre hinweg einen festgelegten Mietzins. Ein gutes Geschäft für den Schatzkanzler, der auf diese Weise seinen Investitionshaushalt entlastet - ein gutes Geschäft für die Investoren, denn die Mietsumme übersteigt bei weitem ihre Investitionen.

Derzeit müssen die 58 PFI-Einrichtungen des NHS jährlich umgerechnet 2,2 Milliarden Euro an Unternehmen wie Siemens, Rentokil-Initial, Jarvis oder Tarmac überweisen und diese Summe nicht zuletzt durch einen Abbau von Betten und von Personal erwirtschaften. Eine Studie der konservativen Partei ergab, dass der NHS in den nächsten 30 Jahren über 80 Milliarden Euro für Spitäler ausgeben muss, deren Bau gerade einmal zwölf Milliarden gekostet hat. Doch die Regierung hält an ihrem Programm fest und plant 30 weitere PFI-Projekte. Und das, obwohl die bisherigen Bauten den NHS-Standards nur selten entsprachen. Sie wurden schnell und schludrig errichtet (in einem Fall fehlte sogar die Leichenkammer) und waren in der Regel mit viel zu wenig Betten ausgestattet.

Alle gegen alle

In einem zweiten Schritt hin zur Marktwirtschaft im Gesundheitswesen lancierte Labour das Konzept der so genannten Foundation Hospitals. Diese Spitäler sind betriebswirtschaftlich selbstständige Unternehmen, die Tarifverträge nicht mehr einhalten müssen, einen Teil ihrer Leistungen (wie die Diagnose und Röntgenabteilung) an Private vergeben können und nicht mehr auf die Belange und Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung Rücksicht nehmen müssen. Sie sind auch niemandem mehr rechenschaftspflichtig - schon gar nicht den Gemeinden, die bisher im NHS ein großes Mitspracherecht hatten. Die Manager der 34 Foundation Hospitals - demnächst sollen alle englischen Spitäler diesen Status erhalten - können also tun, was sie wollen, solange sie ihr Budget einhalten. Sie können ausgliedern, Stationen stilllegen, Löhne kürzen, Land und Gebäude verkaufen. Nur eines können sie nicht: Mit mehr Geld für die Patienten rechnen.

Denn dafür hat der dritte Schritt der Labour-Reform gesorgt, der mit einer allseits gefeierten Anhebung des Gesundheitsbudgets verbunden war. Blair und vor allem Schatzkanzler Brown erhöhten die entsprechenden Ausgaben von umgerechnet 67 Milliarden Euro (im Jahr 2000) allmählich auf 115 Milliarden in 2006. Dieser Anstieg kam auch der Bevölkerung zugute: Die Wartezeiten für nicht überlebensnotwendige Operationen sanken auf ein verträgliches Maß, in mehreren Bereichen (wie etwa der Krebsvorsorge) gewann der NHS wieder internationales Niveau. Er konnte wieder Personal einstellen und die Löhne der Beschäftigten leicht anheben (im untersten Lohnsegment verdienen Krankenpfleger derzeit etwa 8,50 Euro in der Stunde).

Doch der größte Teil dieser zusätzlichen Mittel ging und geht - via PFI - direkt an Privatfirmen oder kommt ihnen indirekt zugute. So investiert die Regierung in den nächsten Jahren über 45 Milliarden Euro in ein Computersystem, das alle Praxen und Spitäler vernetzen soll. Jeder Hausarzt soll künftig den Patienten per Klick eine Auswahl an Kliniken bieten können. British Telecom und andere IT-Firmen haben bereits lukrative Aufträge akquiriert.

Da immer mehr Spitäler als eigenständige, wettbewerbsfähige Unternehmen agieren müssen und zudem ihr Abrechnungsmodus geändert wurde, benötigen sie jetzt Buchhaltungsfirmen (die Verträge mit den Patienten aufsetzen und jede Leistung einzeln abrechnen), Marketingfachleute, Anwälte für absehbare Konflikte und Unternehmensberater. "Pricewaterhouse, McKinsey und KPMG verdienen Millionen und kontrollieren mittlerweile die Geschäfte des NHS", sagt Geoff Martin.

Inzwischen hat Gesundheitsministerin Hewitt die NHS-Behörden und die NHS-Ärzte angewiesen, einen Teil ihrer Patienten an unabhängige Behandlungszentren zu überweisen - nicht mehr an die NHS-Krankenhäuser. Diese Zentren - sie erledigen Routinearbeiten wie Operationen am Hüftgelenk und Katarakteingriffe - werden ausschließlich von international agierenden Firmen betrieben wie Mercury Health, der schwedischen Capio Group, der südafrikanischen Netcare Group oder dem US-Konzern United Health, dessen Europa-Chef Simon Stevens - welch Zufall - bis 2004 Blairs engster Berater in Sachen Gesundheitsreform war.

Unterkühlung und Bronchitis

Kurzfristig verheerend für Spitäler und Patienten ist auch die Direktive aus Hewitts Ministerium, derzufolge alle Krankenhäuser bis Ende März 2007 nicht nur einen ausgeglichenen Haushalt vorweisen, sondern auch noch sämtliche Schulden tilgen müssen, inklusive der Schulden, die auf PFI-Verträge zurück gehen. Diese Anordnung hat dazu geführt, dass seit Februar landesweit 21.800 Klinik-Jobs gestrichen und 2.400 Betten abgebaut wurden - und dass in fast allen Spitalverwaltungen weitere Abstriche erwogen werden: Können wir uns überhaupt psychiatrische Abteilungen leisten? Braucht es noch Entbindungsstationen? Könnte man die Notaufnahme nicht auch in ein 50 Kilometer entferntes Krankenhaus verlegen? Der NHS werde demnächst "die viel geliebte lokale Versorgung" aufgeben müssen, schrieb NHS-Chef David Nicholson gerade in einem Brief an alle Unterhaus-Abgeordneten, er rechne mit einer Schließung von bis zu 60 Krankenhäusern und Unfallstationen.

Welche Marketing-Strategien inzwischen üblich sind, zeigt das Beispiel einer Telefonaktion in der Region Liverpool. Dort rufen seit zwei Wochen NHS-Callcenter arme Rentner an. Im Winter sterben in Britannien jährlich Tausende alter Menschen an Unterkühlung und Bronchitis, weil sie die Heizkosten nicht zahlen können. Und was raten die Telefonisten den besonders bedrohten Bürgern? Sie geben ihnen den Tipp, sich in der kalten Jahreszeit doch warm anzuziehen und mit dem Rauchen aufzuhören. Erfunden hatte diese Aktion das private Beratungsunternehmen Dr. Foster, das für diese Idee vom NHS bezahlt wurde.

"Die Regierung spricht immer nur von Wahlmöglichkeiten, die der Markt angeblich schafft", sagt Geoff Martin, "aber die Leute wollen genauso wenig zwischen Spitälern wählen wie zwischen Feuerwehren. Sie wollen Hilfe, wenn es darauf ankommt." Die Proteste, da ist er sich sicher, würden in den nächsten Monaten noch zunehmen. Bisher hätten viele Spitäler und NHS-Verwaltungen noch keine Details ihrer geplanten Kürzungen veröffentlicht. "Wenn die bekannt werden, geht´s erst richtig los."


National Health Service (NHS)

1948 von der damaligen Labour-Regierung gegründet, ist der britische Gesundheitsdienst mit über einer Million Beschäftigten eine der weltweit größten Einrichtungen. Noch in den neunziger Jahren galt der NHS laut einer OECD-Studie als das "effizienteste und kostengünstigste" Gesundheitssystem der industrialisierten Welt - allerdings mit einem relativ niedrigen Standard. Während sich die Gesundheitskosten in Deutschland auf etwa elf Prozent des Bruttoinlandprodukts belaufen, betrugen die Ausgaben für Gesundheit in Britannien bis Ende der neunziger Jahre gerade einmal sechs Prozent. Dank massiver Investitionen sind sie auf 8,3 Prozent angestiegen, doch das Geld kommt nur zum Teil den Patienten zugute.

So sind zwar die berüchtigt langen Wartezeiten auf nicht lebensnotwendige Operationen deutlich kürzer geworden, aber immer noch werden durchschnittlich 14 Prozent aller Eingriffe abgesagt. Und noch immer gehen in Britannien - verglichen mit Kanada, Schweden oder der Schweiz - doppelt so viele Schlaganfälle tödlich aus. Dennoch hält über die Hälfte der britischen Bevölkerung - so eine Anfang November publizierte Umfrage - den NHS mit seiner Gratisversorgung für "das beste Gesundheitssystem der Welt". Mit den angekündigten Schließungen von Hospitälern dürfte sich das jedoch ändern.

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