Die ganze Welt in einer Tüte

Queens Market in London Die aus aller Herren Länder stammenden Händler des ältesten Straßenmarktes der britischen Hauptstadt gegen Labour und Luxussanierung

Man kann ihn kaum übersehen, den 120-Kilo-Mann inmitten seiner Bananen, Äpfel, Kiwi, Guaven, Papayas, Litschis und Mangos. Und wer ihn nicht sieht, hört ihn, wenn er seine Ware anpreist in seinem Ostlondoner Cockney-Akzent. Brüllen muss er dabei selten. Denn die Käufer - in Jeans, in Röcken, in Saris, in Pluderhosen oder in der Burka - stehen oft Schlange, und sie alle behandelt Neil Stockwell, einer der Obst- und Gemüsehändler vom Queens Market, fast zärtlich. "Sixty Pence, meine Liebe", sagt er, nachdem er eine Tüte Bohnen abgewogen hat. Oder: "One Pound, Sweetheart" (soviel kosten 24 Bananen bei ihm). Oder: "Excuse me, Sir, Sie haben Ihre Mandarinen vergessen!" - "Hat er gerade ›lovely lady‹ zu mir gesagt?", fragt eine rund vierzigjährige Schwarze und strahlt, während sie den Salat und ihre Mangos einpackt: "So was habe ich schon lange nicht mehr gehört."

Neil Stockwell liebt seinen Job. "Ich habe hier eine Aufgabe", sagt er, "ich diene den Menschen". Dafür steht er vier Mal in der Woche vor zwei Uhr in der Früh auf, dafür fährt er zum Großmarkt in Spitalfields, kauft dort Obst und Gemüse, richtet es auf seinem Stand her, bedient bis spät abends seine Kundschaft - und ist dankbar dafür, dass diese ihm, dem weißen Engländer, nicht die Politik der weißen britischen Regierung im Irak vorhält. "Ich bin ja kein politischer Mensch", sagt er, "aber die Muslime sind so tolerant." Vor einiger Zeit, erzählt er, "hat mich ein muslimischer Gentleman gefragt: ›Sag mal, Neil, wie würdest du denn reagieren, wenn du im Radio hörst, dass irakische Truppen mit Panzern durch London fahren? Wärst du nicht auch entsetzt?‹ Da habe ich einiges begriffen."

Links scheppert Reggae aus Lautsprechern, von rechts kommen nigerianische Lieder. Ein Halal-Metzger preist billige Lammkoteletts an. Daneben offeriert ein Fischhändler aus Sri Lanka Meeresfrüchte aus allen Ozeanen. Ein paar Schritte entfernt verkauft ein Somali Kräuter und Gewürze, darunter acht verschiedene Chili-Sorten, jeweils gemahlen, getrocknet oder frisch. Hinter ihm ein Händler aus Rumänien, der Efenkürbis, Flaschenkürbis, Butternusskürbis feil hält. Der asiatische Kollege nebenan wirbt für Yam, Bittergurken, Wasserbrotwurzeln und seine grünen, braunen, schwarzen und gelben Kochbananen. Dazwischen Stände mit billigen Uhren, preisgünstigen Schuhen, westafrikanischen Daschiki-Hemden. Auch vier Coiffeure gibt es auf dem Queens Market, jeden Afro-Schnitt beherrschen sie.

Queens Market ist mit seinen 73 Shops und 80 Ständen der älteste, bunteste und ethnisch vielfältigste Markt von London. Er liegt an der Green Street inmitten von Newham, dem ärmsten Stadtteil der Kapitale. Von der U-Bahn-Station Upton Park sind es nur zwei Minuten, das Fußballstadion von Westham United ist nur einen Steinwurf entfernt. Über 8.000 Menschen besuchen den Markt an jedem der vier Handelstage pro Woche. Rund 54 Prozent von ihnen - das ergab eine Untersuchung der Stadtverwaltung von Newham - kommen aus Familien asiatischen Ursprungs; 27 Prozent stammen aus Ostafrika, Nigeria oder aus der Karibik; der Rest ist weiß.


Das war nicht immer so. Neil Stockwell vom Obststand kann sich noch gut erinnern, wie er als barrow-boy, als Karrenbub, seinem Großvater zur Hand ging. Der habe in den sechziger Jahren vor allem einheimisches Gemüse verkauft: Blumenkohl, Karotten, Zwiebeln, Kartoffeln. Doch dann seien die ersten Immigranten aus der Dritten Welt aufgetaucht. Dadurch änderte sich der Markt, der 1890 entstanden war, 1911 an die Queens Street umzog (daher der Name), 1963 an den heutigen Ort verlegt wurde und lange Jahre von deutschen Einwanderern, dann von jüdischen Immigranten und schließlich von Engländern frequentiert worden war. "Anfang der siebziger Jahre kamen die ersten Leute, die nach Mangos fragten und nach anderen Früchten, von denen wir bis dahin noch nie was gehört hatten", sagt Stockwell, der jetzt in vierter Generation den Stand betreibt. "Mein Großvater zögerte erst, kaufte dann aber doch sechs Mangos. Die waren nach einer halben Stunde weg. Also orderte er neue - und von da wurde alles anders." Heute verkaufen die Stockwells (Neils Bruder Eddie hat ebenfalls einen Stand) statt zwei Tonnen Gemüse zwanzig Tonnen Obst in der Woche.

Die Familie von Julie Lightly blickt ebenfalls auf eine lange Tradition zurück. Schon ihre Urgroßmutter hatte auf dem Queens Market einen Stand aufgeschlagen, den dann ihr heute 86 Jahre alter Großvater übernahm. "Wir sind also seit hundert Jahren da", sagt die Eierfrau, deren Bruder nebenan Gemüse verkauft - "und der Markt wird immer bunter und besser." Die Händler, schätzt sie, kommen aus fünfzig verschiedenen Ländern - mehrere Dutzend aus Asien, viele aus der Karibik, vielleicht zwanzig aus Ost- und Westafrika, und immer mehr aus Osteuropa. Und dann seien da halt noch Alteingesessene wie sie, wie Neil und "wie Terry, dessen jüdische Familie da hinten seit Jahrzehnten einen Gardinenstand führt". Die Gemeinschaft funktioniere prächtig, man harmoniere gut, rassistische Ausfälle habe es seit langem nicht mehr gegeben. "Und deswegen verstehe ich nicht, weshalb der Stadtrat von Newham uns platt machen will."

Sir Robin Wales, der Bürgermeister von Newham, ist derzeit wahrscheinlich der meistgehasste Mann in den endlos langen Reihenhauszeilen rund um Queens Market. Denn Wales - den viele nur Sir Robbin, den Räuber, nennen - will den Markt los werden. Er sei ein Schandfleck für die Gemeinde, die 2012 die Olympischen Spiele beherbergt, sagt der Bürgermeister, der keine Interviews zum Thema Queens Market gibt und seinen Gemeinderatsmitgliedern einen Maulkorb verpasst hat.

Im Jahre 2000 gab die von ihm kontrollierte Verwaltung eine Machbarkeitsstudie in Auftrag. Ziel: Eine Aufwertung des Quartiers. 2004 beschloss der Gemeinderat (damals gehörten von 60 Ratsmitgliedern 59 der Labour-Partei an), den Markt zu ersetzen. Das Areal soll überbaut werden - mit 220 Luxuswohnungen, Parkplätzen, einer Bücherei und einem fast 5.000 Quadratmeter großen Supermarkt. St. Modwen Properties, ein vom Rat beauftragtes Erschließungsunternehmen, legte kurz darauf ein 115-Millionen-Euro-Investitionsprojekt vor, in dem nicht einmal ein Drittel der bisherigen Marktstände und -läden Platz haben wird.

Sie sollten Asda weichen, seit 1999 Tochterfirma des weltgrößten Einzelhandelskonzerns Wal-Mart und mit rund 300 Filialen und über 150.000 Beschäftigten die zweitgrößte Supermarktkette des Landes. Man werde hier ein Einkaufszentrum hinstellen, das seinesgleichen suche, jubilierte Sir Wales - und unterzeichnete im März 2006 einen auf 99 Jahre angelegten Pachtvertrag mit St. Modwen. Die Labour-Mitglieder des Gemeinderats nickten das Vorhaben ab, obwohl eine Meinungsumfrage der Stadtverwaltung eine breite Opposition in der Bevölkerung registrierte. Und obwohl die 2003 gegründete Initiative Friends of Queens Market dem Rat 12.000 Unterschriften für eine Beibehaltung des Marktes vorgelegt hatte.


Eine von denen, die sich seit drei Jahren den Plänen der Stadtverwaltung widersetzen, ist Pauline Rowe. Die Rentnerin, sie war früher im öffentlichen Dienst beschäftigt, kauft auf dem Markt ein, seit sie in East Ham lebt. Dreißig Jahre lang schon kommt sie jeden zweiten Tag hierher: "Ich esse gern und bekomme hier frische Lebensmittel zu einem guten Preis", sagt die Frau, die sich als "Sozialistin von der alten Sorte" beschreibt. Außerdem liebe sie die Vielfalt und den Gemeinschaftssinn. Wo sonst, fragt sie, "gibt es das heute noch, dass man anschreiben lassen kann? Oder dass die Händler am Ende des Tages ihre Ware an die Ärmsten verschenken, weil sie wissen, wie schlecht es ihnen geht?" Und wo könnte sich einer durchschlagen "wie Peter, den ein Familiendrama aus der Bahn geworfen hat und der nun von allen aufgefangen wird", indem die Händler ihm immer wieder Aushilfstätigkeiten anbieten? "Der käme bei einem Supermarkt noch nicht einmal an den Wachleuten vorbei".

Pauline Rowe und ihre Mitstreiter von Friends of Queens Market haben Leserbriefe geschrieben, Abgeordnete angerufen, Medien informiert, mit Londons Oberbürgermeister Ken Livingstone gesprochen und bei der jüngsten Kommunalwahl im Mai 2006 einen Appell lanciert: "Rettet Queens Market, wählt nicht Labour". Sie habe den Aufruf selbst nicht gut gefunden, weil er, so befürchtete sie, die Bewegung spalten könnte. Doch dazu kam es nicht: "Selbst die eher unpolitischen Händler haben begeistert mitgemacht."

Für Furore sorgte im Juni dann eine Studie der New Economics Foundation: Die auf Queens Market verkauften Waren, so die linken Ökonomen, sind im Durchschnitt um 53 Prozent günstiger als in den angeblich superbilligen Asda/Wal-Mart-Supermärkten. Queens Market, ergab die Studie weiter, dient überdies der Gemeinschaft vor Ort, da der Umsatz in Höhe von umgerechnet zwanzig Millionen Euro pro Jahr im lokalen Wirtschaftskreislauf bleibt und nicht an Konzernzentralen abfließt. Zudem bietet der Markt, auf die Fläche umgerechnet, doppelt so vielen Menschen Beschäftigung wie ein Supermarkt. Gerade den auf dem Arbeitsmarkt benachteiligten Immigranten ermöglicht der Queens Market den Einstieg ins Erwerbsleben.


Vielleicht war es die beharrliche Arbeit von Pauline, Julie, Neil, Eddie und den anderen; vielleicht war es die vorwiegend freundliche Berichterstattung in vielen Medien, die sich das Thema David (die Händler und ihre Kunden) gegen Goliath (Wal-Mart) nicht entgehen ließen; vielleicht spielte auch die Studie der linken Wirtschaftswissenschaftler eine Rolle, die ein erhebliches Medienecho hervorrief - jedenfalls zog sich Wal-Mart vor kurzem zurück. Damit stehen Bauträger St. Modwen und die Blairisten von Newham ohne den erhofften großen Mieter da.

"Die sahen wohl zu viele Probleme auf sich zukommen", sagt Neil Stockwell. Er sei sehr erleichtert. Seit vier Jahren habe er sich Sorgen gemacht und sich jeden Tag gefragt, wie er seine Hypothek abzahlen soll, wenn der Markt schließt, seit vier Jahren habe er keine Ferien mehr gemacht.

Und was ist, wenn nun St. Modwen und die Labour-Verwaltung einen neuen Interessenten finden? "Wir haben bisher mit einem Schwergewicht gekämpft" sagt Stockwell. "Wenn du einen Kampf mit Mike Tyson überstanden hast, dann nimmst du es auch mit einem Leichtgewicht auf." Pauline Rowe ist ebenfalls verhalten optimistisch: "Wir verlangen ja nicht viel", sagt sie. "Es gibt in London viele Kirchen, die auf wertvollem Grund stehen, und die trotzdem niemand in Frage stellt, obwohl kaum jemand in ihnen betet." Die Kirchen seien der kapitalistischen Ordnung nicht unterworfen. "Warum soll das nicht auch für einen Markt gelten, der ebensoviel Kultur repräsentiert, vielleicht noch mehr?", fragt sie in einem der Marktcafés, während draußen eine Stimme dröhnt: "Zwei Pfund vierzig, Darling. A lovely day, isn´t it?"


Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden