Die Peinlichkeiten des Wie-hieß-er-doch gleich?

Grossbritannien Die Labour-Partei und ihr Premier verfallen einer akuten Irak-Amnesie

Alles Mögliche haben die Delegierten des Labourparteitags diskutiert, der vergangene Woche zu Ende ging. Sie sprachen über die Krise des teilprivatisierten Gesundheitssystems, die Umwelt, das Bildungswesen und über neue, schärfere Maßnahmen, um die Jugendkriminalität zu stoppen. Sie stritten darüber, ob ihr neue Premier Gordon Brown - laut Umfragen der beliebteste Parteichef und Politiker im Land - in den nächsten Tage eine snap election, eine vorgezogene Neuwahl des Unterhauses, ausrufen sollte. Nur zwei Themen fehlten auf dieser Jahreshauptversammlung: Niemand sprach von Tony Blair, der die Partei immerhin 13 Jahre lang geführt hatte ("Tony Who?", nennen ihn mittlerweile die Medien - wie hieß der doch gleich?). Und kaum ein Delegierter erwähnte den Irak-Krieg, der seit mehr als vier Jahren die Bevölkerung über Gebühr beschäftigt und den sie - von einer kurzen Phase abgesehen - mehrheitlich ablehnt.

Irgendwann im Jahr 2008

Blairs Irak-Feldzug hat das Land verändert, Millionen auf die Straßen getrieben, die muslimische Bevölkerung entfremdet, Terroranschläge ausgelöst, den Überwachungsstaat zu neuen Kapriolen veranlasst - und die Partei, deren Spitze die Gemetzel im Irak mit zu verantworten hat, geht stillschweigend darüber hinweg. Ihr und dem derzeitigen Kabinett (bis auf einen Minister hatten seinerzeit alle die Invasion befürwortet) ist die Sache nur noch peinlich. Und zu einem Thema bei möglicherweise vorgezogenen Wahlen, mit denen viele rechnen, will ihn schon gar niemand machen.

Dabei geht es nicht zuvörderst um Gesichtsverlust. Das Bild von tapferen britischen Soldaten, die den Einsatz von Massenvernichtungswaffen stoppen, einen Diktatur beseitigen und einer unterdrückten Bevölkerung die Demokratie bringen, ist ohnehin perdu - auch und gerade in Britannien. Als sich die eigenen Truppen Anfang September aus dem Palast im Zentrum von Basra auf das besser zu sichernde Flughafengelände zurückzogen, beschrieben seriöse britische Zeitungen das Manöver als das, was es ist - eine Kapitulation, eine Niederlage. Innerhalb kurzer Zeit, so schrieben viele Reporter, hätte es die britische Armee geschafft, sich die südirakische Bevölkerung zum Feind zu machen. Dabei seien die Soldaten 2003 noch freudig begrüßt worden. Selbst britische Generäle sprechen von einer "gescheiterten Mission". Im August beklagte Mike Jackson, zur Zeit der Invasion im März/April 2003 Oberkommandierender der Armee, die Strategie der USA - Washington sei "intellektuell völlig überfordert" gewesen, es habe keinerlei Planung für die Zeit danach gegeben.

Aber weshalb ruft Premier Brown die im Südirak verbliebenen 5.500 britischen Soldaten nicht sofort zurück, die nur noch sich selber und niemanden sonst schützen? Warum stellt er lediglich einen Abzug irgendwann 2008 in Aussicht? Antwort: Er kann nicht anders, weil sonst der Alliierte in Washington vollends desavouiert wäre - und er muss es nicht.

Die "besonderen Beziehungen zu den USA", auf die sich britische Politiker seit Jahrzehnten berufen, haben nicht nur historisch-angelsächsische und ökonomische Gründe. Sie beruhen nicht allein auf persönlichen Freundschaften wie einst zwischen Thatcher und Reagan oder später zwischen Tony Who und George W. Bush. Sie haben einen konkreten Kern. Ohne den militärisch-technischen Beistand der USA wäre das Vereinigte Königreich keine Nuklearmacht. Ohne US-Unterstützung etwa im Satelliten- oder Leitfeuerbereich könnten britische U-Boote keine Atomraketen abfeuern. Ohne die in Britannien platzierten amerikanischen Computerzentralen hätte die Royal Air Force keine überregionale Bedeutung mehr.

Die von Brown vorgesehene Modernisierung der nationalen Atomstreitkraft (geschätzte Kosten: 50 Milliarden Euro) kann er sich ohne die Amerikaner schenken. Und überhaupt: Ohne den großen Bruder - glaubt die politische Klasse in London - gehe gar nichts mehr im geostrategischen Spiel. Die ehemalige Weltmacht würde international auf das Format von - sagen wir - Italien schrumpfen. Deshalb verzog Gordon Brown bei seinem Antrittsbesuch im Weißen Haus zwar das Gesicht, als Bush ihm auf die Schulter klopfte, sagte aber wenig.

Das Protestierens müde

Der Premierminister muss ja auch keine schnelle Entschlüsse fassen, wie der Labour-Kongress gerade zeigte. Die britische Stop War Coalition, die Kernformation der Antikriegsbewegung, mobilisiert derzeit zwar für eine nationale Demonstration am 8. Oktober, aber mehr als ein paar Tausend werden sich auf dem Trafalgar Square kaum versammeln.

Ist die Antikriegsbewegung auf abschüssiges Terrain geraten? "Nein", sagt Tony Benn, der 50 Jahre lang Labour-Abgeordneter war, in den sechziger und siebziger Jahren im Kabinett saß, im Alter von 82 immer noch ein aktiver Hoffnungsträger der Labour-Linken ist und auf allen Kundgebungen der Stop War Coalition spricht. "Wir haben dem Widerwillen der Bevölkerung gegen den Krieg einen Ausdruck verliehen", sagt er im Gespräch mit dem Freitag. "Millionen sind auf die Straße gegangen. Und das Establishment weiß, dass ein neuer Krieg - etwa gegen den Iran - auf noch größeren Widerstand stoßen würde."

Andere sind nicht so zuversichtlich. "Wir haben demonstriert und demonstriert, vor dem Krieg und seither immer wieder", sagt Yasmin Razak, Kinderärztin in einem Londoner Spital. "Aber was hat es gebracht?" Sie sei des Protestierens müde geworden. "Immer dasselbe Ritual", meint auch Ismail Jalisi, der die ersten großen Antikriegs-Kampagnen in London mit organisiert hatte. Die traditionelle Linke an der Spitze der Stop War Coalition habe nur das alte Protest-Repertoire ablaufen lassen, "keine neuen Ideen. Sie setzt nur auf neue Leader, denen man dann E-Mails schreiben soll." - Jalisi übersieht bei seiner Kritik die vielen kleinen Aktionen vor Rüstungsfabriken auf dem Land, die Blockaden der Atomwaffentransporte, die Mahnwachen vor US-Abhör- und Lenkzentralen, die Proteste gegen Faslane, den Hafen für Atom-U-Boote in Schottland. Aber über all das berichtet auch niemand.


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