Der Hieb war schlecht platziert, aber er machte Geschichte. "Junge Abgeordnete verprügelt Minister im Parlament", kreischten die britischen Medien hinterher, dabei war Innenminister Reginald Maudling nicht einmal zu Boden gegangen. Aber beeindruckend muss der Vorgang schon gewesen sein. Jedenfalls können sich ältere Berichterstatter noch gut daran erinnern, wie die empörte Abgeordnete Bernadette Devlin auf Maudling zuging und ihm eine schmierte. Devlin hatte gute Gründe für ihren Schlag - und auch viel gelernt danach. "Die britische Öffentlichkeit empörte sich mehr über die Ohrfeige als über den Mord an 14 Menschen", sagt sie später. Dadurch sei ihr erst richtig bewusst geworden, wo "die Engländer" die irische Bevölkerung ein
einordnen - ganz weit unten.Derry und der Blutsonntag - gezielte Schüsse in die MengeEin paar Tage vor jener denkwürdigen Szene im Unterhaus hat die couragierte Abgeordnete Devlin selbst in Deckung gehen müssen. Am 30. Januar 1972 demonstrieren Zehntausende in Nordirlands zweitgrößter Stadt Derry gegen die Internierungspolitik der Briten. Seit Monaten haben sie im Verbund mit der protestantischen Regionalregierung die irisch-katholische Bevölkerung terrorisiert: Hunderte werden nachts aus den Betten geholt, in Lager gesperrt, schikaniert und gefoltert - ohne Gerichtsverhandlung, ohne Haftprüfungstermin, ohne Möglichkeit, einen Anwalt anzurufen. Angehörige erfahren wochenlang nichts. Die Empörung ist groß, und so kommen viele zusammen, als die nordirische Bürgerrechtsbewegung zum Protestmarsch in Derry aufruft. Bernadette Devlin - wie sie damals noch heißt - ist eine der Rednerinnen, sie greift gerade nach dem Mikrofon, als Schüsse über den Platz peitschen. "Ich dachte erst, da feuert jemand in die Luft", erinnert sie sich später. "Aber alle rannten." Sie wirft sich auf die LKW-Ladefläche, die als Redebühne gedacht ist. "Als ich wieder hochschaute, habe ich mich gewundert: Warum liegen da Leute auf der Straße, warum rennen die nicht weg?" Es dauert eine Weile, bis sie begriffen hat, dass britische Fallschirmjäger gezielt in die friedlich demonstrierende Menge geschossen haben, um den widerspenstigen Katholiken eine Lektion zu erteilen - 14 Menschen sind tot.In der folgenden Unterhausdebatte über den Vorfall lässt der Parlamentspräsident die einzige anwesende Augenzeugin des Massakers am "Bloody Sunday" - die Abgeordnete Devlin - nicht zu Wort kommen. Der verantwortliche Innenminister Maudling aber darf weitschweifig über eine IRA-Attacke referieren, gegen die sich die tapferen britischen Soldaten nur gewehrt hätten. Eine glatte Lüge, wie inzwischen feststeht. Also bekommt er eine verpasst. Für diese Tat wird sie bis heute in den irisch-katholischen Vierteln Nordirlands geehrt.An Mut hat es der Frau, die schon in jungen Jahren zur Ikone des Protests gegen ein ungerechtes Regime wird, nie gefehlt. Sie gehört zu den Ersten, die in den sechziger Jahren gegen die Benachteiligung der irisch-katholischen Minderheit im nordirischen Einparteienstaat demonstrieren, der den Armen das Kommunalwahlrecht verweigert und ein Ausnahmegesetz nach dem anderen erlässt.Der erste Bürgerrechtsmarsch 1968 - er beginnt in Coalisland, wo Bernadette immer noch wohnt - sieht sich von der protestantischen Polizei (RUC) und pro-britischen Loyalisten ebenso attackiert wie der legendäre Protestzug von Belfast nach Derry 1969. Kurz danach wird die gerade 21 Jahre alte Devlin - sie hat die linke Organisation People´s Democracy mitbegründet - für den Wahlkreis Mid-Ulster ins Londoner Unterhaus gewählt. Als im August 1969 erneut die Polizei einen Bürgerrechtsmarsch überfällt, steht sie mitten in der Battle of Bogside: Die RUC muss sich zurückziehen, das "Freie Derry" ist geboren, London schickt Truppen. Devlin habe den Widerstand koordiniert, wird später in einem Prozess behauptet, der ihr - der Abgeordneten - ein halbes Jahr Gefängnis einträgt. Für die einen ist sie danach eine "irische Jeanne d´Arc", die anderen halten sie für einen "Castro im Minirock".Nach dem Blutsonntag 1972 gilt nur noch das enge Denken von "uns" und den "anderen". Debatten über die richtige Strategie sind genauso wenig möglich wie über die unterschiedlichen Vorstellungen "von revolutionären Frauen und bürgerlichen Frauen" oder die soziale Frage. "Wer auf die nationale Identität und ethnische Zugehörigkeit fixiert ist, will von Klasse nichts mehr wissen. Du kannst nicht den katholischen Kapitalisten um Geld für die nächste Waffenlieferung bitten und dann sagen: Ach ja, was ich schon lange mal loswerden wollte: Ich finde es eine Schande, dass du deine Arbeiter ausbeutest." Dass all diese Fragen in den folgenden Jahrzehnten nie wieder aufs Tapet kamen, ist für Bernadette der Hauptgrund für die allmähliche Niederlage einer Bewegung, die einst die Gesellschaft verändern wollte.Hungerstreik und Attentat - im Visier des Geheimdienstes 1973 heiratet sie den Lehrer Michael McAliskey, und ein Jahr später verliert sie ihren Sitz im Unterhaus, weil die Bürgerrechtsbewegung zerfällt und die moderat-katholischen Sozialdemokraten gegen sie kandidieren (ein konservativer Protestant gewinnt). Es wird ruhig um Bernadette McAliskey, doch ist sie mit all ihrer Eloquenz und Wut in dem Augenblick wieder da, als in britischen Zuchthäusern irisch-republikanische Häftlinge um ihren politischen Status kämpfen. Schon vor dem ersten Hungerstreik der Gefangenen 1980 ist sie als Sprecherin des nationalen Solidaritätskomitees ständig unterwegs. Drei führende Mitglieder des Komitees werden erschossen - auf Geheiß der britischen Sicherheitskräfte, wie sich später herausstellt. Am 16. Januar 1981 tauchen protestantische Killer auch bei ihr auf. Bernadette überlebt - von sieben Kugeln getroffen - den Mordanschlag nur mit viel Glück. Kurz danach ist sie wieder auf den Beinen, um die IRA nahe Sinn Féin Partei zu einer politischen Strategie zu bewegen. Ihr Führer Gerry Adams lehnt anfangs ab, akzeptiert dann aber, dass Bobby Sands, Führer des zweiten Hungerstreiks 1981, für eine Nachwahl kandidiert - und gewinnt. Eine grandiose Niederlage für den britischen Staat, dessen Aufstandsbekämpfer Bernadette McAliskey nicht zufällig auf der Liste haben, weil sie dazu aufruft, den absurden Kreislauf von Schlag und Gegenschlag zu durchbrechen. Denn militärisch haben die Briten alles im Griff - weit mehr, als die IRA je wahrhaben will (siehe Kasten). Was London allein fürchtet, sind politische Bewegungen von Bürgerrechtlern, gegen die britischen Militärs nicht viel mehr einfällt als nackte Gewalt, die wiederum neue Gewalt auf der anderen Seite provoziert.McAliskey plädiert für die Teilnahme an Wahlen, ohne an den Parlamentarismus zu glauben; sie streitet gegen die Militaristen, ohne Pazifistin zu sein - und sie fragt, wenn keiner antworten will, beispielsweise nach dem während der neunziger Jahre erkennbaren Kurs von Sinn Féin in Richtung einer "britischen Lösung" des Konflikts. Was bringt die "Integrationsstrategie" von Adams den völlig verarmten Menschen? Warum wurden Ende der Achtziger so viele Kritiker des Sinn-Féin-Kurses von britischen Einheiten oder pro-britischen Killerkommandos erschossen? Wer gab den Tipp?Sie bleibt nicht die einzige Linke, die das Karfreitagsabkommen bedauert, weil es die britische Herrschaft über Nordirland zementiert - aber sie ist die Prominenteste. Daher glaubt auch niemand an einen Zufall, als mitten in den Verhandlungen über das Abkommen ihre Tochter Róisín 1996 unter dem Vorwand verhaftet wird, an einem Anschlag in Deutschland beteiligt gewesen zu sein. Es gibt zwar jede Menge Entlastungszeugen, dennoch wird Róisín nach England gebracht, trotz Krankheit und Schwangerschaft in Einzelhaft gesperrt und misshandelt. Erst im März 1998 kam Róisín McAliskey - die im Mai 1997 während der Haft ihre Tochter zur Welt bringt - dank internationaler Solidarität wieder frei. Eine Entschuldigung der zuständigen Behörden gibt es nie - von einer Wiedergutmachung ganz zu schweigen.
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