Immer noch ein Ärgernis

Grossbritannien Fünf Jahre nach ihrer großen Niederlage sind die Liverpooler Hafen-arbeiter präsenter denn je: mit eigenen Unternehmen und einem Zentrum in der Stadt

Der rote Stern hängt zwar hoch, aber man kann ihn gut sehen. Auch die Adresse hat ihren Charme: Hope Street, Straße der Hoffnung. Und dann die Nachbarschaft: links die moderne katholische Kathedrale, rechts der mächtige neogotische Bau der anglikanischen Kathedrale von Liverpool. Ein paar Schritte entfernt der Konzertsaal der Philharmonie, schräg gegenüber das Philharmonic, prächtigste Kneipe im englischen Norden. Und mittendrin das Casa, das radikal-politische Zentrum der einstigen Liverpooler Hafenarbeiter - mit einem Bistro im Keller, das preisgünstiges Mittagessen bietet, mit einem Pub im Hochparterre, mit Konferenzraum und dem Sekretariat des Internationalen Dockarbeiter-Rats IDC (s. Kasten) unter dem Dach.

Dass sie hier einmal ankommen würden, hatte freilich keiner der 500 Liverpooler Docker gedacht, als sie im September 1995 aus Solidarität mit 80 Kollegen die Arbeit niederlegten und innerhalb von Stunden von der Mersey Docks and Harbour Company (MDHC), die den einst größten Hafen des britischen Empires betreibt, entlassen wurden.

Von der Gewerkschaft abgeschrieben

Der Konflikt sorgte landesweit für Aufsehen. Jahrelang wimmelte es am Hafen von Polizei, die Streikbrecher in die Docks eskortierte und demonstrierende Arbeiter in Schach hielt. Überall in Liverpool sammelten Gruppen Geld für die gefeuerten Hafenarbeiter. Zweimal gab es große Solidaritätsstreiks, an denen sich Docker in über 100 Häfen von der amerikanischen Westküste bis nach Australien beteiligten. In Britannien und in Irland entstanden Hilfskomitees. Nur ihre eigene Organisation, die Transportarbeitergewerkschaft TGWU, schrieb die Docker ab: Sie versprach zwar einiges und schickte etwas Geld, weigerte sich aber, einen Kampf um Wiedereinstellung offiziell gutzuheißen. Das führte dazu, dass die Internationale Transportarbeiter-Föderation (ITF), ansonsten Konfrontationen nicht abgeneigt, keine internationalen Boykottmaßnahmen gegen die MDHC einleitete. Auch die Labour-Partei - damals schon unter dem Vorsitz von Tony Blair - wollte sich nicht einmischen.

Ausgelöst wurde der Konflikt durch die Maßregelung von fünf Dockern der Firma Torside, einer Tochter der MDHC: Die hatten sich geweigert, nach einem langen Arbeitstag noch eine Nachtschicht anzuhängen. Als ihnen daraufhin gekündigt wurde, legten die übrigen 75 Torside-Docker die Arbeit nieder und stellten einen Streikposten auf, den - so waren einst die Gepflogenheiten - die 420 Docker der MDHC am nächsten Tag respektierten. Sie blieben draußen und wurden wegen »Vertragsbruch« ebenfalls gefeuert.

Im Kern aber ging es nicht darum, sondern um den Willen der Hafenfirma, den Tageslohn wieder einzuführen, fest angestellte Docker wieder zu schlecht bezahlten, sozial miserabel abgesicherten Arbeitskräften zu degradieren, die gegeneinander konkurrieren. Dagegen hatten sich die Liverpooler mit mehreren Streiks gewehrt - bis im September 1995 die beschriebene Provokation gelang. Das MDHC-Management argumentierte, dass mittlerweile die Häfen ja privatisiert worden seien, dass die Kosten gesenkt werden müssten - und bot den Entlassenen eine Wiederanstellung ohne Gesamtarbeitsvertrag und zu schlechteren Konditionen an. Die lehnten ab und hielten durch bis Ende Januar 1998. Dann gaben sie - von ihrer Gewerkschaft und Labour im Stich gelassen - auf, akzeptierten die gesetzlich vorgeschriebene Abfindung und verließen die Docks.

Ein Spielfilm von Ken Loach

Ihr Widerstand hatte den Dockerfamilien trotz der Solidarität viel abverlangt. Ehen gingen zu Bruch, Dutzende konnten die Kredite für ihr Häuschen nicht mehr zurückzahlen und verloren es, vier Docker starben an Herzinfarkt. »Wir hatten verloren«, erinnert sich Terry Southers, »und alle ließen die Köpfe hängen«. In dieser Lage seien einige von ihnen mit Ken Loach, dem bekannten britischen Filmregisseur, in Verbindung getreten. Loach hatte 1997 in einem Dokumentarfilm die Hafenarbeiter und die Women of the Waterfront, die Dockerfrauen, gewürdigt.

Da einige der Frauen mit ihren Männern bei der Workers Educational Association, einer Art Volkshochschule, einen Schreibkurs besuchten (um ein Buch über den Konflikt zu verfassen), entstand im Kontakt mit Loach die Idee eines TV-Spielfilms. Der renommierte Liverpooler Drehbuchautor Jimmy McGovern (er schrieb Episoden der britischen Seifenoper Brookside sowie der Krimiserie Fitz und lieferte das Exposé zum preisgekrönten Streifen Liam) beriet die Drehbuchschreiber, fand eine Produzentin und einen Geldgeber - den britischen Fernsehkanal Channel 4. Und der strahlte das Drama Dockers im Juli 1999 aus. Als Mitproduzentin figurierte die Initiative Factory (IF), die von den Dockern gegründet worden war. Da McGovern und andere auf ihr Honorar verzichteten und Channel 4 gut zahlte, hatte die Factory plötzlich Kapital - 120.000 Pfund.

»Wir haben den Kapitalismus genutzt, um den Sozialismus voranzubringen«, meint Terry Southers. Man kaufte mit dem Geld das leer stehende Gebäude an der Hope Street, in dem früher der Casablanca-Club sein Domizil hatte. 50 Docker brachen Mauern heraus, bauten Treppen, renovierten das Dach, zimmerten Türpfosten, legten Stromleitungen, verputzten Wände. Heute sind etwa 180 der ehemals 500 Docker zahlende Mitglieder der Factory: die Geschäftsführung wird regelmäßig aus den eigenen Reihen gewählt. Dank eines Arbeitsbeschaffungsprogramms finanziert der Liverpooler Stadtrat drei Jobs, die sieben Factory- Mitglieder unter sich aufteilen.

»Alle haben gedacht, wenn der Konflikt vorbei ist, verschwinden auch die Docker«, sagt Southers. »Aber wir sind immer noch da.« Präsenter denn je. Seit die TGWU ihre Regionalzentrale aus Kostengründen vom Zentrum an die Peripherie verlegen musste, seit das Arbeitslosenzentrum an der Hardman Street Raummiete verlangt, kann sich das Casa über Zulauf nicht beklagen. »Das ist jetzt unser Haus, und wir laden alle ein«, sagt Southers, »auf diese Weise zahlen wir allen, die uns während des Kampfes geholfen haben, etwas zurück.« So trifft sich hier mittlerweile der Liverpool Trades Council, das Ortskartell der Gewerkschaften, mit Betriebsgruppen und Ortsvereinen.

Was ist eine Arbeitskraft wert?

Das Channel-4-Honorar reichte zum Erwerb des Gebäudes nicht ganz aus. Aber allmählich schreibt die Initiative Factory schwarze Zahlen - das Pub im Erdgeschoss bringt Geld, »obwohl wir den Aushilfskräften ein Pfund mehr in der Stunde zahlen als alle anderen Pubs in Liverpool«, wie Terry Teague versichert. Rückschläge bleiben nicht aus. So hat die Regierung im Dezember unvermittelt ihre Weiterbildungsinitiative Individual Learners Account abgeschafft. Damit wurden Qualifizierungsmaßnahmen für Arbeitssuchende gefördert. Da die Docker selber daran interessiert waren und im Casa Computerkurse anboten, hatten sie fest mit Geldern aus diesem Programm gerechnet. Dummerweise waren aber auch diverse dubiose Privatagenturen entstanden, die auf der Straße Beitrittserklärungen zu Kursen sammelten, die nie stattfanden, aber abgerechnet wurden.

Auch anderes scheiterte. So hatten die Docker kurz nach ihrer Niederlage eine selbst verwaltete Firma gegründet, die ihre Arbeitskraft vermitteln sollte - die Liverpool Dockers and Stevedors Ltd. (LDS). Die Devise: Was andere können, schaffen wir schon lange. Die Hafenfirma MDHC besorgt sich ihr Personal mittlerweile fast ausnahmslos über Jobvermittlungsagenturen, denen sie 13 Pfund pro Arbeitsstunde bezahlt, während die neuen Tagelöhner nur fünf erhalten.

Auf der 13-Pfund-Basis wollte LDS mit den Hafenbetreibern ebenfalls ins Geschäft kommen - nur mit dem Unterschied, dass sie ihren Leuten erheblich mehr bezahlt hätte als fünf Pfund. Das jedoch wollte die MDHC nicht akzeptieren, man wollte keine konflikterfahrenen Docker im Hafen, die noch dazu besser entlohnt wurden. »Wir hätten den Tagelöhnern schon gezeigt, wie viel ihre Arbeitskraft eigentlich wert ist«, sagt Southers.

Die Docker spielen also weiter eine Rolle in der Stadt und bleiben für manche ein Ärgernis. Mit ihrer alten Gewerkschaft und deren Vorsitzendem, TGWU-Chef Bill Morris, schwelt noch ein besonderer Konflikt. Erst gegen Ende ihres Kampfes zwischen 1995 und 1998 wurde nämlich bekannt, dass alles gar nicht hätte sein müssen: Als die Torside-Manager die Kampfbereitschaft spürten, waren sie zum Nachgeben bereit. Man werde die fünf gefeuerten Docker wieder einstellen, sagten sie TGWU-Sekretär Jack Dempsey zu. Doch der gab die Information nie weiter, offenbar weil er fand, dass den selbstbewussten Dockern ein Dämpfer nicht schaden könnte. Nun haben die Hafenarbeiter ihre einstige Gewerkschaft, die TGWU, auf Schadenersatz verklagt. »Das ist zwar traurig«, sagt Terry Southers, »aber wir haben uns noch nie etwas gefallen lassen - auch von der Gewerkschaft nicht.«

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