Lieutenant Kendall-Smith und die Kabelschneider

Grossbritannien Die Friedensbewegung hat zwar an Einfluss verloren, ist aber weiterhin an vielen Fronten unterwegs

Wohl nur selten zuvor haben sich in einer Londoner Kirche so viele Nichtgläubige versammelt und wahrscheinlich wurde an diesem Ort auch noch nie so viel geklatscht. Fast 600 Leute sind gekommen, um ihre Solidarität mit Flight Lieutenant Malcolm Kendall-Smith zu zeigen - und sie zahlen auch noch dafür. 15 Pfund kostet dieser Abend in der St. James´s Church am Picadilly, und trotzdem ist er ausverkauft. Aufgerufen hat die Stop the War Coalition und aufgeboten ist eine illustre Schar von Künstler - die Kabarettisten Mark Thomas und Mark Steel verspotten die Regierung, der Komponist Michael Nyman spielt auf dem Piano, die Schauspielerin Janet Suzman rezitiert George Bernard Shaw, die irakische Autorin Haifa Sangana zitiert aus Briefen, und dann sind da natürlich der Regisseur Ken Loach und Tony Benn, früher Labour-Minister, heute Präsident der Antikriegsbewegung.

Sie alle feiern in dieser "September-Nacht des Gewissens" die Entscheidung des Luftwaffenoffiziers Kendall-Smith, der sich geweigert hat, seinen Dienst im Irak anzutreten und deswegen im April zu acht Monaten Haft und zur Übernahme der Gerichtskosten in Höhe von 20.000 Pfund verurteilt worden ist - die Einnahmen dieses Abends sind für ihn bestimmt.

"Eine Reihe von Soldaten hat den Dienst im Irak abgelehnt", sagt Andrew Burgin, Sprecher der Stop the War Coalition. "Aber keiner musste dafür bisher ins Gefängnis. An Kendall-Smith jedoch hat das Militär ein Exempel statuiert." Den Elitesoldaten Ben Griffin etwa, erzählt Burgin, der im Souterrain von Houseman´s Bookshop ein Antiquariat betreibt, habe das britische Sonderkommando Special Air Services (SAS) einfach gehen lassen, als er sich dem Irak verweigerte. Griffin hatte wie Kendall-Smith bereits einen Einsatz am Tigris hinter sich und miterlebt, wie die Besatzungsarmeen mit den Irakern umspringen. Warum aber konnte Griffin, der Berufssoldat, seinen Job einfach vorzeitig kündigen? "Offenbar wollte die SAS keinerlei Publizität", vermutet Burgin, "die Spezialeinheiten sind mehr als andere Truppenteile auf die Loyalität ihrer Mitglieder angewiesen."

Time to go

Es rumort in der britischen Armee und der Royal Air Force. Die Zahl der Soldaten, die sich "unerlaubt vom Dienst entfernen", ist seit Beginn der Irak-Invasion auf das Dreifache gestiegen. Noch stärker zugenommen hat das Engagement von vielen Familien der im Irak und in Afghanistan eingesetzten Männer, sie bestreiten die Legalität und den Sinn der Operationen und kooperieren mit der Antikriegsbewegung. "Ein neuer Trend", denkt Burgin, "ohne die zumindest stillschweigende Zustimmung ihrer Männer, Väter und Söhne würden sie dies nie tun." Noch gibt es keine Soldatenkomitees in Britanniens Berufsarmee, noch ruft niemand zur Desertion auf, noch besteht kein Netz, das Soldaten, die untertauchen wollen, auffangen könnte - aber diskutiert wird darüber, denn immer mehr Soldaten leiden unter posttraumatischen Belastungen; viele halten ihren Job kaum noch aus. Sie würden im Südirak mit offenen Armen empfangen, hatten ihnen die Befehlshaber versprochen - und nun können sie sich kaum aus den Kasernen wagen.

Während immer mehr Angehörige der Organisation Military Families against the War zustreben - selbst in der konservativen Region Cornwall haben sich kürzlich mehrere Soldatenmütter zusammengetan -, reagieren die Briten mehrheitlich eher pragmatisch und gelassen. Zwar sind laut Umfragen weiterhin über 60 Prozent der Meinung, die Entscheidung für den Krieg im Irak sei falsch und empörend gewesen, da sie auf Lügen basierte - andererseits denken viele, seien die Truppen nun einmal dort, sollten sie eine möglichst konstruktive Rolle spielen.

Innerhalb der Antikriegskoalition kursiert die Auffassung, die Besatzungstruppen sollten durch ein UN-Friedenkorps aus muslimischen Staaten ersetzt werden. Burgin und mit ihm eine Mehrheit aus der Stop the War Coalition hält dies für illusionär: "Woher sollen diese Kräfte kommen? Aus dem Iran, der Türkei, aus Pakistan?" Wer auf die perfekten Umstände hoffe, warte ewig, irgendwann müsse man gehen. "Die Iraker sind durchaus in der Lage, sich selber in Schach zu halten, wenn die Besatzer abziehen." Das würden auch viele irakische Emigranten sagen, die vor Saddam Hussein nach Großbritannien geflüchtet seien.

Die britische Friedensbewegung streitet nicht nur über die Frage, ob und durch wen die jetzigen Militärkontingente im Irak und in Afghanistan ersetzt werden sollten. Es gibt auch taktische Differenzen, so glaubt die Stop the War Coalition, nur politischer Druck auf die Regierung führe zum Ziel. Andere Gruppierungen setzen auf direkte Störmaßnahmen, wie sie besonders die Campaign for Nuclear Disarmament (CND) bevorzugt. Der älteste britische Friedensbund entstand schon in den Fünfzigern; sein Logo - es zeigt die Flaggensignale der Buchstaben N und D in einem Kreis - wurde später weltweit zum Symbol für Frieden.

Viele CND-Aktive agieren seit Jahren vor amerikanischen und britischen Militärcamps. Jeden Dienstag beispielsweise protestieren Pazifisten vor Menwith Hill und damit der größten elektronischen Abhöranlage der Welt, die seit geraumer Zeit eine markante Komponente des US-Star-Wars-Konzepts ist. Im Juni wurden Helen Jones (68) und Sylvia Boyes (62) bei dem Versuch festgenommen, die Anlage zu betreten. Wenn sie - wie die Polizei behauptet - mit Hammer und Kabelschneider ausgerüstet waren, drohen den beiden zehn Jahre Haft. Ihnen wird ein Verstoß gegen das erst seit dem Frühjahr geltende "Gesetz gegen das schwere organisierte Verbrechen" zur Last gelegt.

Armee am Anschlag

Vor Faslane - in diesem Marinehafen liegen die mit Kernwaffen bestückten Trident-U-Boote - beginnt Anfang Oktober eine 365tägige Dauerblockade. Das dortige Peace Camp (es besteht seit 1982) will mit dieser Aktion, zu der täglich Antikriegsaktivisten erwartet werden, auch ein Zeichen setzen gegen die Aufrüstungspläne von Gordon Brown, dem möglichen Nachfolger von Tony Blair. "Wir lassen nicht locker", sagt Andrew Burgin, "vielleicht unser größter Erfolg". An einem denkbaren US-Feldzug gegen den Iran werde sich die britische Regierung angesichts solcher Opposition kaum beteiligen können, ist er überzeugt, zumindest nicht mit Bodentruppen.

In der Tat kann die innenpolitische Stimmung schnell umschlagen. Noch mehr Verluste als derzeit in Afghanistan (seit Anfang August sind dort 23 Briten umgekommen) und noch mehr Tote im Irak (seit März 2003: 117 Gefallene) dürften nicht ohne Wirkung bleiben, glaubt Burgin. Ob er Recht hat - angesichts des britischen Stoizismus, des Beharrensvermögens im Nordirlandkrieg und der Kolonialgeschichte des Empires erscheinen Zweifel angebracht.

Dennoch haben die Downing Street 10 und die Armee ein Problem: Sie finden nicht mehr genug Freiwillige. Die britische Armee (sie umfasst 110.000 Männer und Frauen, vom Sanitätspersonal bis zu PC-Spezialisten) braucht pro Jahr 10.000 bis 20.000 neue Rekruten, um einsatzfähig zu bleiben. In Schottland, einem traditionellen Rekrutierungsgebiet, ist die Zahl der Freiwilligen merklich gesunken. Ein Grund dafür mag sein, dass die Schotten die Irakpolitik der Labour-Regierung entschiedener ablehnen als viele Engländer. Aber vielleicht ist es auch auf das Engagement von Leuten wie Rose Gentle zurückzuführen. Ihr Sohn starb 2004 in Basra. Seither geht sie von Schule zu Schule, um dort werbenden Militärs entgegen zu treten und den Jungen zu erzählen, wie es war, als ihr Gordon in den Krieg zog und nicht mehr zurückkam.


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