Staatsfeind Nr. 1

Grossbritannien Mit dem Sturm auf Falludscha gerät die Regierung Blair innenpolitisch weiter unter Druck. Eine Form des Protestes hat sie jeden Tag direkt vor ihrer Haustür

Nun wird er noch einen Winter hier draußen verbringen bei seinen Stellwänden und Plakaten, bei seinen "Pace"-Fahnen und seinem Schlafsack. Der Gedanke behagt ihm nicht sehr, schließlich hat er schon drei Winter hinter sich. "Ich bleibe, so lange es sein muss." Genau 1.252 Tage hat es bisher sein müssen, und nach dem Wahlsieg am 2. November von George Bush werden wohl noch viele Tage und Nächte hinzukommen.

Am 1. Juni 2001 hatte Brian Haw, damals 52 Jahre alt, seinen Protest begonnen. Er brachte ein Plakat, einen Campingstuhl und ein Megaphon mit und ließ sich auf dem Parliament Square direkt gegenüber dem Londoner Unterhaus nieder. Wo ihn alle sehen können, die das Parlament betreten oder verlassen - Abgeordnete und Regierungsmitglieder inklusive. Sein Protest richtete sich damals gegen die Sanktionen, die von den USA und Britannien mit dem Segen der UNO gegen den Irak verhängt waren. "200 irakische Kinder sind jeden Tag gestorben", sagt er, "unschuldige Wesen, die teils gleich nach der Geburt umkamen, weil es keinen Sauerstoff gab. Und warum gab es den nicht? Weil wir vor 13 Jahren die einzige Sauerstofffabrik bombardierten und die Sanktionen einen Wiederaufbau verhinderten. Ist Sauerstoff eine Waffe?" Ein "monströses Verbrechen" seien die Sanktionen gewesen, genauso wie der Krieg, den Bush und sein Waffenbruder Blair seit März 2003 ohne Segen der UNO gegen den Irak führen.

Aus Brian Haws erstem Plakat sind mittlerweile 20 Meter Stellwand geworden mit Fotos von verstümmelten und sterbenden Kindern, mit Daten und Statistiken, mit Zitaten ("Es hat noch nie einen guten Krieg oder einen schlechten Frieden gegeben, Benjamin Franklin, 11. September 1783") und großen Lettern: "BUSH, BLAIR = BABYKILLERS". Tony Blair muss schon auf die andere Seite sehen, wenn er diesen Spruch nicht wahrnehmen will - entkommen kann er ihm nicht.

Haw wuchs in Worcestershire auf, fuhr zur See, war Möbelschreiner und kann sich noch gut an seinen Vater erinnern. "Er kämpfte im Zweiten Weltkrieg, war einer der ersten, die das KZ Bergen-Belsen gesehen haben und ist nie über den Massenmord dort hinweg gekommen. Er hat sich 20 Jahre später umgebracht." Damals habe Britannien den Faschismus bekämpft. "Welches faschistische Regime haben wir seither nicht unterstützt?"

Nie zuvor hat ein Tory-Führer das Weiße Haus so demonstrativ brüskiert

Viele halten Haw mit seiner Mütze in Form eines Stahlhelmes, auf dem unzählige Buttons kleben, für einen nutter, einen Verrückten. Vor ein paar Jahren war er in Kambodscha. "Dort habe ich erfahren, dass die USA mit ihren Flächenbombardements Ende der sechziger Jahre Hunderttausende getötet haben." An diesen Völkermord erinnere man sich genauso wenig wie an die Aussage von Winston Churchill, den gefeierten Staatsmann, der 1919 einen Angriff der britischen Kolonialtruppen auf Kurden und Araber mit den Worten befürwortete: "Ich bin ganz entschieden für einen Giftgaseinsatz gegen unzivilisierte Stämme." Die Verbrechen der Vergangenheit dürften nicht in Vergessenheit geraten, sagt Haw. "Hat sich Churchill je für die kleinen Leute eingesetzt? Oder Blair, der zu Kriegsbeginn von einem ›Blutzoll‹ sprach, den er zahlen wolle? Warum zieht er dann nicht selber in den Krieg? Warum vergießt er nicht sein Blut oder das von Leo, seinem jüngsten Sohn?"

Brian Haw sagt das nicht nur still vor sich hin. Er hat sein Megaphon und jede Menge Sympathisanten, die ihn unterstützen. Sie versorgen den bekennenden Christen mit Lebensmitteln und Batterien für seinen Lautsprecher, und vertreten ihn, wenn es sein muss. Seit Bushs Wahlsieg hat der Zulauf eher zugenommen. Etwa 75 Prozent der Briten lehnen den Irak-Krieg mittlerweile ab. Inzwischen sind auch viele Medien der Überzeugung, dass Washington ohne die britische Hilfe diesen Krieg nie hätte führen können. Vor drei Wochen veröffentlichte die Sonntagsausgabe des Independent Aussagen von sechs Irak-Experten, die im November 2002 (fast ein halbes Jahr vor Kriegsbeginn) ins Büro des Premiers gebeten worden waren und Blair vor den Folgen eines Einmarschs gewarnt hatten. "Mich hat seine Naivität überrascht und sein Unvermögen, die komplexen Zusammenhänge zu begreifen", zitierte Independent on Sunday einen dieser Berater: "Für ihn lief alles auf eine persönliche Sache hinaus - hier Bush und Blair, dort der Schurke Saddam. Aber er wusste nichts vom Irak ..."

Alle Bemühungen des Kabinetts, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit vom Irak weg zu lenken, sind bisher gescheitert - alle reden nur über die politisch motivierte Verlegung eines britischen Regiments von Basra an den Rand von Falludscha, die bisher vier britischen Soldaten das Leben kostete. Blair spürt diese Stimmung im Land - und hat wohl auch deswegen etwas gezögert, als er nach Bushs Wahlsieg die Regierungschefs der EU dazu aufrief, ihre "Verweigerungshaltung" aufzugeben.

Viele Labour-Politiker hatten auf John Kerry gesetzt, und selbst dem Premier dürfte Bushs klarer Wahlsieg kaum recht gewesen sein, denn der verlangt Eindeutigkeit: Die USA oder Europa? Bisher hatte sich Tony Blair zuweilen als Vermittler versucht: Nur dank seiner Loyalität könnten Bush Kompromisse abgerungen werden, ließ er durchblicken. Doch hat der US-Präsident britische Einwände - falls es sie überhaupt je gab - kaum beachtet und dürfte es nun erst recht nicht tun.

Die Stimmung in London ist mittlerweile so gereizt, dass nicht einmal der konservative Oppositionsführer Michael Howard Bush zum Wahlsieg gratulierte - in der Hoffnung, sich so von Blair absetzen zu können. Nie zuvor hat ein Tory-Führer das Weiße Haus so demonstrativ brüskiert.

Innenminister Blunkett lässt Kanonen auffahren, um auf Brian Haw zu schießen

Am Abend von Bushs Wahlsieg waren Prominente in London zusammengekommen, um die Namen der Toten des Irak-Krieges vorzulesen: Stephen Hawking, der bekannte Physiker, machte den Anfang. Es folgten Bürgermeister Ken Livingstone, Tony Woodley, Vorsitzender der Transportarbeitergewerkschaft TGWU, der Schriftsteller Harold Pinter, der Regisseur Ken Loach, der renommierte Rechtsanwalt Michael Mansfield. Sie lasen über vier Stunden und wurden nicht fertig. Nach einem detaillierten Report amerikanischer und irakischer Gesundheitsexperten gab es seit März 2003 über 100.000 Todesopfer, 49 Prozent davon Frauen und Kinder. "Die Kinder, es geht um die Kinder", sagt Brian Haw, der immer dann zum Megaphon greift, wenn er Blairs Wagenkolonne erblickt.

Insofern bleibt nichts unversucht, ihn zu vertreiben: Im Vorjahr hatte der Gemeinderat von Westminster verfügt, mit den Plakaten werde der Gehweg blockiert, und Haw festnehmen lassen. Doch der High Court sprach ihn frei, der Protest behindere niemanden, urteilten die Richter. Im März 2004 stand Haw wieder vor Gericht. Er habe einen Polizisten angegriffen, als der seine Stellwände mit der Begründung demontieren wollte, dahinter könnten sich Terroristen verbergen. Aber auch der im Mai vom Parlamentspräsidenten in Auftrag gegebenen Suche nach möglichen Regelverstößen des Dauerdemonstranten blieb der Erfolg versagt.

So lässt Innenminister David Blunkett die großen Kanonen auffahren, um auf Haw zu schießen. Zuletzt verkündete Labour-Fraktionschef Peter Hain - ein ehemaliger Linker -, das geplante Gesetz gegen das Organisierte Verbrechen enthalte einen Passus, der Dauerdemonstrationen auf dem Parliament Square ausdrücklich verbiete. "Jetzt bin ich wohl der öffentliche Feind Nummer 1", meint Brian Haw, "und muss mit Respekt behandelt werden. Aber ich bleibe hier, so lange es sein muss."


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