Milzbrand in Harbin

Der Zweite Weltkrieg und die japanische "Sondereinheit 731" Ihre "Erkenntnisse" wurden später von der US-Armee sehr geschätzt

Nachdem sich rasch herausgestellt hatte, dass die kurz nach dem 11. September 2001 in den USA zirkulierenden Anthrax-Briefe nicht von Osama bin Laden versandt wurden, das hochwirksame Milzbrandpulver vielmehr aus der eigenen Biowaffenforschung stammte, klang die Hysterie über diese "Terrorgefahr" schnell ab. 2003 gaben die USA bisher für ihr B- und C-Waffenarsenal sechs Milliarden Dollar aus, international blockierten sie weiter die mittlerweile durch 144 Staaten unterzeichnete Biowaffenkonvention von 1972 - es gibt zu diesem Verhalten ein geschichtliches Vorspiel, das in die Zeit vor 1945 zurückführt.

Nach dem Ersten Weltkrieg denkt die japanische Regierung in den zwanziger Jahren vermehrt über biologische Waffen nach, so dass die medizinische Abteilung der Armee ein Team von 40 Wissenschaftlern unter Führung von Ishii Shiro mit einem einschlägigen Forschungsauftrag versieht. Ishii ist Mediziner und Absolvent der Kyoto-Universität, der nach seinem Studium sofort in die Armee eingetreten ist. Als die japanische Kriegsmaschine 1932 China überrollt, wird er mit dem zwei Jahre zuvor der Armee unterstellten "Zentrum bakteriologischer Untersuchungen" in den Norden der Mandschurei verlegt - man will auf einen möglichen späteren Vorstoß gegen die UdSSR vorbereitet sein.

Auf Order von Kaiser Hirohito entstehen schließlich 1936 zwei Sondereinheiten, von denen eine Ishii unterstellt ist. Offiziell nennt sich dieser Verband "Abteilung der Kwangtung-Armee für die Prävention von Epidemien und die Wasserreinigung", intern gilt ab 1941 die Bezeichnung "Einheit 731". Stationiert nahe der Stadt Harbin setzt sie gegen Teile der Zivilbevölkerung gezielt Pest-, Cholera- und Milzbranderreger aus und löst außerdem durch gezielte Giftgaseinsätze sowie Experimente an "lebendem Menschenmaterial" ein Massensterben aus. Bis Kriegsende gibt es über 1.100 Giftgaseinsätze in 14 chinesischen Provinzen, wodurch vermutlich Hunderttausende von Zivilisten massakriert werden. Noch kurz vor der Kapitulation Japans am 15. August 1945 setzte die "Einheit 731" mit Pest und Cholera infizierte Ratten aus, was allein in den Provinzen Heilungchiang und Kirin zum Tod von über 20.000 Chinesen führt.

Immunität für Ishii Shiro

Auch in den USA wird seit Ende 1943 in Camp Detrick (Maryland) systematisch über biologische Waffen geforscht. Nach der japanischen Niederlage scheuen Sieger und Besiegte keine Mühe, die perfiden Praktiken der "Einheit 731", besonders deren minutiöse Aufzeichnungen und Labordaten über Versuche an "lebendem Material" geheim zu halten und mit Blick auf kommende Kriege auszuwerten.

Der Chefankläger des - den Nürnberger Prozessen vergleichbaren - Internationalen Militärtribunals für den Fernen Osten, Joseph B. Keenan, setzt Ende 1945 auf Anweisung von General Douglas MacArthur, des Oberkommandierenden der US-Besatzungstruppen, durch, dass sowjetische Anschuldigungen gegen Mitglieder der "Einheit 731" gezielt ignoriert werden. MacArthurs Sicherheitschef, General Charles Willoughby, wird eigens beauftragt, die "Einheit 731" von der Außenwelt abzuschotten. Obgleich Oberstleutnant Thomas H. Morrow in seiner Eigenschaft als Jurist und Mitglied der International Prosecution Section of the Tokyo Trial und David N. Sutton als Vorsitzender der Dokumentationsabteilung des Tribunals nach China reisen, um Beweise für das biologische Kriegsprogramms der Japaner zu sammeln, bleiben deren Berichte für den Prozess vollkommen irrelevant. Bereits im August 1946 zeichnet sich ab, dass die Mitglieder der "Einheit 731" straffrei bleiben. In Absprache mit dem Weißen Haus verzichtet General MacArthur, der "super emperor of Japan", im Austausch für die Forschungsergebnisse auf eine Anklage der kommandierenden Offiziere von "731". Faktisch genießen Leute wie Generalmajor Kitano, von 1942 bis 1944 Kommandeur der "Einheit 731", wie auch der bereits als tot gemeldete und mit einem inszenierten Scheinbegräbnis bedachte Ishii Shiro Immunität. Letzterer ist von US-Offizieren über einen Monat lang (vom 17. Januar bis zum 25. Februar 1946) verhört worden. Dabei wie auch bei späteren Kontakten mit dem U.S. Chemical Corps in Camp Detrick lässt Ishii durchblicken, sich bei garantierter Straffreiheit kooperativ zeigen zu wollen.

Genau so geschieht es - MacArthur und das Weiße Haus sind sich einig, dass der Wert der japanischen Daten über biologische Kriegführung für die nationale Sicherheit der USA höher zu veranschlagen sei als eine auf diese Daten gestützte Anklage. Eine Sicht der Dinge, die im State Department auf harsche Kritik stößt und als Affront gegen internationales Recht und die Moral gewertet wird. Dennoch behält MacArthur die Oberhand: die japanischen Informationen über biologische und chemische Kriegführung gelten als "top secret" und nicht als beweiskräftige Tatsachen vor einem Tribunal.

Experimente an US-Gefangenen

Erbitterte Proteste amerikanischer Kriegsgefangener, sie seien von Mitgliedern der "Einheit 731" für Experimente missbraucht worden, finden keinen Widerhall im US-Kongress. Weder zahlt man den Überlebenden eine Entschädigung, noch erstattet man ihnen die Kosten für nötige medizinische Behandlungen. Offensichtlich ist die stillschweigende, arbeitsteilige Übereinkunft zwischen Siegern und Besiegten von beiderseitigem Vorteil: Washington nutzt die sensiblen Daten der "Einheit 731" für den nächsten Waffengang auf der koreanischen Halbinsel (1950-53). Und Tokio "vergisst" dieses heikle Thema lange Zeit, lastet den Terror der "Einheit 731" später Privatpersonen an und weigert sich bis heute nach Bekanntwerden dieses dunklen Kapitels seiner militaristischen Vergangenheit (wie bereits im Falle zwangsrekrutierter Sexsklavinnen der kaiserlichen Armee), die Opfer oder deren Hinterbliebenen abzufinden.

Die Volksrepublik China und Nordkorea werfen bereits im März 1951 den USA vor, im Koreakrieg auch gezielt B- und C-Waffen einzusetzen. Ein sechsköpfiges internationales Beobachterteam reist in beide Länder, um diese Anschuldigungen zu untersuchen. Die Delegation, darunter der langjährige - auf dem Festland ebenso wie in Taiwan als herausragender Wissenschaftler anerkannte - Chinaforscher Dr. Joseph Needham, kommt zu dem Schluss, die USA haben tatsächlich B- und C-Waffen auf der koreanischen Halbinsel eingesetzt. Doch zu schneidend ist der eisige Wind im Kalten Krieg, als dass solche Erkenntnisse die Gemüter im fernen Washington bewegen könnten.

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