Offensichtlich angewidert hielt Verteidigungsminister Rudolf Scharping bei einem Presse-Briefing Ende April eine Fotoserie vor die laufenden Kameras der zahlreich versammelten Journalisten, die beweisen sollte, daß die Serben bereits vor dem Fall der ersten NATO-Bomben grausamste ethnische Säuberungen im Kosovo durchgeführt hätten. Die Fotos schienen eindeutig: mehrere, aus dem Fluß der Zeit isolierte Geschichtspunkte zeigten der Weltöffentlichkeit angehäufte Leichen und Männer in Uniform, die scheinbar teilnahmslos zwischen den gewaltsam ums Leben gekommenen Zivilisten herumstanden. Sorgfältigst geklebt auf schwarzen Fotokarton und untermalt mit der an diesem Tag ungewohnt sonoren Stimme des Verteidigungsministers, hätten diese technischen
hen Bilder ihre Wirkung eigentlich nicht verfehlen können Wie schon in anderen Kriegen zuvor sollten die belichteten Barbareien des Gegners wieder einmal dabei behilflich sein, die eigene Hochmoral ins rechte Licht zu setzen. Doch mehr als einmal schien der Gebrauch der Fotografie als Informationsmedium nicht gelingen zu wollen. Nicht, daß man nicht mehr betroffen sein wollte angesichts der emotionalen Aufladung jedes der Lichtbilder, auch nicht, daß die Fotos auf irgendeine Weise manipuliert gewesen wären, vielmehr sollte sich herausstellen, daß zwischen der tatsächlichen Realität des Grauens und Scharpings Abbildern von ihr eine Lücke klaffte. OSZE-Beobachter, denen das Massaker seit längerem vertraut gewesen war, waren unlängst zu der Einschätzung gekommen, daß die genauen Hergänge dieses Kriegsverbrechens nicht mehr zu rekonstruieren seien. Was sich auf den Fotografien als eindeutige Erzählung über serbische Greueltaten erweisen sollte, schien in Wirklichkeit zu komplex, als daß es von den scharfen Konturen der Lichtbilder wiedergegeben werden konnte.Nun ist das Medium der Fotografie aber nicht erst seit diesem Zwischenfall in den Verdacht der Schwindelei geraten. Filme wie Wag the Dog, das allgemeine Gerede über eine »virtuelle Realität« und die nahezu unbegrenzten Möglichkeiten mit Hilfe digitaler Bildbearbeitungsprogramme die ursprünglichen Abbildungen zu verfälschen haben uns mißtrauisch gemacht gegenüber der Aussagekraft der technischen Bilder. »Bilder lügen«, so lautet dementsprechend der häufigste Vorwurf an jenes Medium, das wie kaum ein anderes Wahrnehmung und Gedächtnis verändert hat. Zwar bestimmen Kriegsfotografien wie jene, mit denen uns Robert Capa oder Jewgeni A. Chaldej unauslöschliche Einblicke in die Kampfhandlungen des zweiten Weltkriegs ermöglicht haben, noch immer das öffentliche Bild vom Krieg, doch sind wir skeptischer geworden gegenüber den Paparazzis des Grauens und dem Wahrheitsgehalt ihrer Bilder. Was aber, so sollte man sich endlich einmal fragen, wenn die Fotografien uns gar nichts über die Wirklichkeit erzählen wollen und die in Kriegszeiten so wichtigen Begriffe von ÂWahrheit' und ÂLüge' überhaupt keinen Zugang zur Botschaft der Fotografie bieten? Fast täglich, so zeigt das Beispiel aus dem Verteidigungsministerium, haben wir uns auch im Kosovo-Krieg das Versagen der fotografischen Beweismittel vor Augen führen lassen, und noch immer glauben wir daran, daß die Fotografie zur Erhellung der Welt beitragen könnte.Bereits seit ihrer Erfindung durch Nicéphore Niépce und Louis Daguerre im Jahre 1839 hat man sich immer wieder daran gemacht, die Botschaften der Lichtbilder zu dechiffrieren. Kaum jemand, der nicht den durch diese epochale Erfindung eingetretenen Wandel unserer Wahrnehmung, die fortan immer mehr dem Irrglauben verfiel, die zweidimensionalen Erscheinungen der Bildoberfläche für die unverstellte Wirklichkeit zu halten, bemerkt und sich darüber kritische Gedanken gemacht hätte. Doch der Aufstieg dieses neuen Mediums zum wohl populärsten Nachrichtenträger war nicht mehr zu bremsen, kamen die Lichtbilder doch gerade zu jenem Moment in Mode, in dem man in Europa das Recht auf Bildung und Information demokratisieren wollte. Gerade für ein Publikum, das sich mit dem Lesen schwertat, lieferte die Fotografie somit einen verständlichen Zugang zum Weltgeschehen. Die notwendigen Fragen nach dem Verhältnis der modernen Bilder zur Wirklichkeit und den Möglichkeiten, sich ihrer Botschaft zu nähern, fielen dahinter immer weiter zurück. Aber auch die Intellektuellen, die sich seither wiederholt Gedanken über die Entschlüsselung der fotografischen Mitteilungen gemacht haben, kamen nie wirklich über die Feststellung hinaus, daß dieses Unterfangen nahezu unmöglich sei. Eine Fotografie, das ist eine Anhäufung von Zeichen, denen keine eindeutigen Inhalte zugeordnet werden können. Im Gegensatz zu den klassischen Medien der Schrift und der Malerei sagt sie uns nichts über das Wesen unserer Welt, sondern reproduziert diese nur noch einmal in ihrem unverständlichen Chaos. Zwar zeigt sie auf, daß sich etwas zu irgendeinem Zeitpunkt ereignet hat, doch über die zeitlichen und räumlichen Zusammenhänge dieses Ereignisses sagt sie nichts. Daß die oben abgebildete Aufnahme des Fotografen Roger Lemoyne zum Beispiel die Totenwache am Sarg eines Mannes zeigt, ist offensichtlich. Doch erst die Bildunterschrift aus dem »World Press Photo Katalog« verrät dem Betrachter, daß es sich bei dem Toten um einen 31jährigen Albaner handelt, der an der Grenze zum Kosovo erschossen worden ist. Streng genommen, erzählt uns die Fotografie somit gar nichts von der Wirklichkeit - nichts über ihre Natur, nichts über ihre Zusammenhänge und auch nichts über ihre Geschichte.Vor dem Hintergrund dieses Dilemmas verwundert es nicht, wenn die Produzenten der Nachrichtenbilder in den letzten Wochen häufig Zuflucht dazu nahmen, bekannte Motive zu zitieren und zu dekonstruieren. Denn will die Fotografie zur Erklärung und Erhellung der uns umgebenden Welt beitragen, so bleibt ihr letztlich nichts, als sich der vertrauter Stoffe zu bedienen. Der Fundus ihrer Zitate ist auch in diesem Krieg wieder enorm gewesen, bemühte sowohl religiöse Bildwelten als auch die Traditionslinien der noch jungen Fotogeschichte. Oftmals getrieben von einen an Ernest Hemingway erinnernden Drang zum Vabanquespiel, schießen - eine martialische Metapher, die der Kriegsfotograf Robert Capa geprägt hat - die nahezu teilnahmslosen Augenzeugen hinter dem Objektiv der Kamera weiterhin Fotos, deren Zeichenstruktur uns nur allzu vertraut erscheinen will. Ob die Fotojournalistin Dayna Smith, die erst unlängst für einen ihrer Kosovo-Schnappschüsse mit dem World-Press-Photo-Preis des Jahres ausgezeichnet worden ist oder Sebastiao Salgado, der schon im nächsten Jahr eine weltweite Wanderausstellung mit den bedrückenden Exponaten von den Flüchtlingen aus dem Kosovo eröffnen will - fast immer sind die Blicke der Kriegsfotografen darauf aus, jenen Moment zu verewigen, der in seiner Symbolträchtigkeit Erinnerungen an die reichhaltigen Stoffe unserer Kulturgeschichte wachrufen kann. Selten etwa hat sich eine derart säkulare Gesellschaft wie die unsere so vielen stilisierten Mariendarstellungen gegenübergestellt gesehen, wie dies in letzter Zeit mittels der aus ihren raum-zeitlichen Zusammenhängen gerissenen Aufnahmen von Flüchtlingsmüttern mit ihren Kindern geschehen ist. Und doch verfehlten diese sakralen Bildmodelle der Mütterlichkeit noch immer nicht ihre Wirkung, erzeugten eine Anteilnahme, wie man sie seit der Legende vom Bethlehemer Kindermord nicht mehr verspürt hatte. Andere Fotos wiederum lehnten sich in ihren Motiven lieber an die klassischen Gemälde von der Grablegung Christi an, um auf diese Weise die Osterbotschaft von Tod und Auferstehung auf die ansonsten hoffnungslose Situation auf dem Balkan zu übertragen Mit Wahrheit und Lüge aber hat dies alles nur wenig zu tun gehabt, eher schon mit dem Ringen nach Erzählstrukturen eines an sich sprachlosen Mediums.Wenn die in der Schweiz lebende Autorin Sibylle Berg während des Besuches eines albanischen Flüchtlingslagers in diesem Sinne mit der bestechenden Einsicht aufwartete: »Es ist anders als im Fernsehen, das Lager. Man riecht es, man hört es und schaut ihnen in die Augen, den 40.000 Menschen hinter Barrieren«, so ist in dieser Aussage zwar der treuherzige Unterton, mit dem die Infotainment-Generation auf den Initiationsschmerz beim Wiedereintritt in die Wirklichkeit zu reagieren scheint, nicht ganz zu überhören, doch zeigt dies eben auch, daß trotz der Inflation der bildlichen Nachrichtenvermittlung eine längst ausstehende Reflexion über die Begabungen der einzelnen Medien beginnt. Zwar mag diese den Intellektuellen der Popkultur nicht unbedingt leicht fallen, bestimmte sich ihre Denkweise doch maßgeblich durch den Glauben daran, die Welt von den Zeichen an ihrer Oberfläche her verstehen zu können, doch scheint das In Frage stellen unserer Wahrnehmung unvermeidlich, wollen wir in Zukunft über die anstehenden Konflikte wirklich im Bilde sein. Denn auch wenn wir immer sprachloser werden sollten vor den Schlachtbänken der Geschichte, so wird man doch nicht um eine erhellende Sprachfindung herumkommen. Schon wenn in den nächsten Wochen die Bilderfluten verebben und sich die ersten Gelehrten daran machen werden, die Geschehnisse dieses Krieges mit Worten zu fassen, wird man keine andere Möglichkeit mehr haben, als hinter die Oberfläche der emotionsgeladenen Fotografien und Fernsehbilder zu schauen. Die wahrhaftige und entmythologisierte Erzählung von Vertreibung und Krieg scheint eben auch am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts mehr, als eine geometrische Gerade zwischen zwei Bildpunkten zu sein.
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