Die Welt des Islams ist ein Reich aus unbekannten Zeichen. Die Traumbilder, die dem Westeuropäer bei den Märchen aus 1001 Nacht erscheinen, haben ihren Ursprung womöglich weniger in der fremden Gedankenwelt, als vielmehr in der unergründlichen Oberfläche. Der Orient ist verschlüsselt wie unsere Träume, und nicht von ungefähr denkt der Nicht-Muslime zunächst oft an Sterndeuter und Zeichenleser, wenn er seine Vorstellungen über den Islam in Worte fassen soll. Ein Ensemble aus Minaretten, arabischen Schriftzeichen oder herrlich verzierten Arabesken überfordert unsere Vorstellung von der Lesbarkeit der Welt aufs Äußerste. Spätestens am Bosporus scheint die Welt als Text einer Vokabellücke zum Opfer zu fallen.
Im Deutschen Guggenheim in Berlin aber kann man sich derzeit mit diesem fremden Zeichensystem etwas vertraut machen. Unter dem Titel Siegel des Sultans wird hier ein Ausschnitt aus der Kalligraphischen Sammlung der Istanbuler Sabanci Universität gezeigt. 500 Jahre osmanische Kalligraphie in vier abgedunkelten Räumen. Von den Anfängen des osmanischen Großreichs unter Sultan Muhammad II., der im Mai 1453 Konstantinopel eroberte und somit für Jahrhunderte einen Gegenpol zur rein christlichen Interpretation Europas schuf, bis zum Jahr 1928 - dem Jahr, in dem unter dem Vater der Türken, Mustafa Kemal Atatürk, die arabische Schrift durch das lateinische Alphabet abgelöst wurde.
Was der Besucher auf mehr als siebzig Exponaten zu sehen bekommt, ist oberflächlich gesehen jedoch nichts weiter als eine Abfolge von Bögen und Strichen, mit feiner Tusche auf gebleichtes und koloriertes Papier aufgetragen und mit Spiralranken, Hasten und Schleifen verziert. Zwar weiß man, dass diese Linien Ausdruck eines komplexen Codes sind, doch für den nicht-arabischsprechenden Besucher verweisen diese Zeichen auf nichts als sich selbst. Außer einer bunten und äußerst künstlerisch gestalteten Oberfläche von Prachtkoranen, Herrscheremblemen und Urkunden starrt man ins Leere, fährt hilflos die arabischen Letter ab, kreist um die kursiven Linien und Rundungen - doch bei aller Anstrengung: die Schrift verweilt als entleerte Hülle.
So werden im Guggenheim Texte zu Bildern. Dabei ist es sogar weniger die Unkenntnis des Arabischen, die im Umkehrschluss Leser zu Betrachtern macht, sondern ebenso das Selbstverständnis der kalligraphischen Kunst. Eifriger nämlich als die beiden Brüder aus Lessings Ringparabel hat der Islam das gemeinsame Bilderverbot zu einem kreativen Dogma weiterentwickelt. Nicht in der Plastik oder der Malerei liegt die höchste Form der islamischen Kunst, sondern in der unübertroffenen Fertigkeit des schönen Schreibens. Ob in den verbrämten frühen Koranschriften von Seyh Hamdullah oder den klaren Linien in den Schriftbändern Haci Arif Beys - in der Kalligrapie hat sich ein Zwitter zur Kunst erhoben. Und wie das so ist mit den Wanderern zwischen den Welten: wirklich ernst genommen werden sie selten. Der Sammler dieser "Textbilder", der türkische Geschäftsmann Sakip Sabanci jedenfalls ist schon etwas Stolz darauf, dass er mit "Siegel des Sultans" endlich die erste umfassende Ausstellung osmanischer Kalligraphie in Deutschland zeigen kann.
Dabei drückt die Janusköpfigkeit der Kalligraphie doch eigentlich nur aus, was der wissenschaftlichen Semiotik längst bekannt ist: eine alte Verwandtschaftsfehde zwischen Schrift und Bild. Denn Texte, so hat es der Philosoph Vilem Flusser einmal formuliert, sind letztlich nichts anderes als eine Metamorphose der Bilder. Zwar können beide die Welt in bedeutungsschwangere Symbole verwandeln, doch erst Schrift formt aus der Fläche Linien und aus der Gleichzeitigkeit eine geordnete Chronologie. Vorher und Nachher sind eben Begriffe, die in der magischen Bilderwelt noch im wahrsten Sinne aus dem Rahmen gefallen sind. Erst wo es Schrift gibt, gibt es auch Geschichte. Nicht verwunderlich also, dass sich die fortschrittlicheren Religionen das Bildermachen strikt verbitten. "Du sollst dir kein Bildnis machen" - das heißt eben auch: "Du sollst das lineare Prinzip von Ursache und Wirkung anerkennen". Denn wo es Geschichte gibt, da gibt es auch endlich Heilsgeschichte - jene heiligen Texte, in denen auf Sünde Verdammnis und auf Buße Erlösung folgt.
Doch fortschreiben lassen sich die frühen Bilder eben nicht. Wer den Pinsel gegen das Schreibrohr tauscht, der kann manch aufschlussreiche Überraschung erleben. Die osmanischen Kalligraphien Sabancis sind dabei nur ein Beispiel dafür, dass die Revierkämpfe zwischen Bild und Schrift noch lange nicht ausgefochten sind. Die Katze läßt das Mausern nicht - Adornos Grundeinsicht in die Dialektik der Aufklärung macht auch vor dem Siegel des Sultans nicht halt.
Dabei sollte die Geschichte der jüngsten der abrahamitischen Religionen doch eigentlich eine erste reine Schriftgeschichte werden. Anders nämlich als noch im Christentum, in dem das Wort Fleisch wurde, wurde hier das Wort mittels des Korans endlich Text. In diesem, so der muslimische Glaube, offenbart sich Gott in seiner deutlichsten und unverfälschtesten Form. Der Koran nämlich ist nicht weniger als die Niederschrift eines einmaligen "himmlischen Urtextes". In ihm verwandelt sich Gott quasi selbst in zweidimensionale Schriftzeichen. Schon die Übersetzung in andere Sprachen oder die bildliche Interpretation ist verboten. Andernfalls bestünde Gefahr, dass sich der zu Text und Begriff erstarrte Gott abermals verflüchtigen könnte.
So gesehen zeigt das Deutsche Guggenheim momentan nicht nur eine Schau zur osmanischen Kalligraphie, sondern stellt ungewollt eine der ersten räumlich begehbaren Sprachkritiken der Welt aus: die prächtigen Kopien des himmlischen Urtextes sind nicht mehr zu entschlüsseln. Die mit feinen Schreibrohren aufgetragene goldene Schrift illustriert als rußhaltige Tinte allenfalls noch ein Lob der Oberflächlichkeit. Gott ist in der eigenen Schrift gefangen. Wer dächte da nicht an Nietzsche - "Worte sind erstarrte Metaphern, von denen wir vergessen haben, dass sie solche sind"?
Dabei ist es nicht mal nur der Nicht-Muslime, der zum Metatext nicht mehr durchdringen kann. Der Mäzen und vermutlich reichste Mann der Türkei, Sakip Sabanci etwa muss mit Bedauern feststellen, dass auch er seine arabischen Koranmanuskripte nicht mehr lesen kann. Und mit dieser Unkenntnis ist er nicht allein. Zwar können heute noch viele der religiösen Türken die Schrift entziffern oder laut vortragen, doch verstehen tun sie sie nicht mehr. Mit der Schaffung der laizistischen Türkei und der modernen türkischen Sprache ist man plötzlich abgeschnitten von den vielen Erzählungen, die zusammengenommen die prächtige osmanische Geschichte geschrieben haben.
Vorschnellen Ersatz bieten nicht selten die neuen globalen Codes; leicht verständlich, weltweit für jeden zu entziffern. Das Traumbild von der tausendundersten Nacht - es spiegelt sich auf den farbenfrohen Gesichtern der United Colours of Benetton. Vielleicht ist es tatsächlich ein wenig so, wie Peter Handke einmal etwas vorschnell formuliert hat: "Die Welt wird zur Verlängerung der 5th Avenue". Die neue Gleichheit speist sich aus der eigenen Fremde, und Trost bietet nur noch die Ironie: an einer Wand strahlt in goldenen Lettern eine Kalligraphie Haci Arif Beys; ein kleiner Begleittext verrät den Inhalt; eine Sure des Korans: "In ihm sind deutliche Zeichen".
Siegel des Sultans. Deutsche Guggenheim Berlin. Bis 8. 4. 2001.
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