Die Globalisierung ist eine Wanderbewegung. Neben den Migrationsströmen der human resources tritt sie einen Transfer der Zeichensysteme los. Kulturcrossing, Patchworkgesellschaften und Identitätshopping hinterlassen ihre Markierungen zunächst am gesellschaftlichen Futteral. Unzählige zeitgenössische Fotografen machen sich mittlerweile einen Spaß daraus, die absurdesten Veränderungen der globalen Optik festzuhalten. Je mehr sich die kulturellen Codes vermischen, um so zusammengewürfelter erscheinen auch die Bilder von der Oberfläche der Erde. Renommierte Fotografen wie Lars Tunbjörk oder Martin Parr bilden da nur die Speerspitze dieser ästhetischen Mode.
Der 1968 geborene Dokumentarfotograf Reiner Riedler etwa hat nun einen Bildband über die Ukraine veröffentlicht, in dem einst sicher geglaubte Attribute visuell verschoben werden und kulturelle Zuschreibungen einen permanenten Aufschub erhalten. Die Ukraine, zu Sowjetzeiten in Look und Erscheinung wie für die Ewigkeit festgelegt, erscheint auf Riedlers Fotografien als ein Land voller Brüche und Widersinnigkeiten. Der Bankrott des Kommunismus hat hier nicht nur ein ideologisches, sondern vor allem ein ästhetisches Vakuum hinterlassen.
Reiner Riedler, im österreichischem Gmunden geboren und seit längerem als freier Fotograf für Nachrichtenmagazine wie Spiegel, Profil oder Focus tätig, versteht es, diese signifikanten Leerstellen aufzuspüren und mit zeitgemäßen Zuschreibungen neu zu besetzen. Nichts etwa könnte den Verlust der einstmals starren Formen besser ausdrücken, als seine Aufnahme einer vermoderten Waschbetonplatte, durch die vier ausgestanzte Hammer-und-Sichel-Motive hindurchscheinen. Die einstigen Insignien des Kommunismus wirken hier lediglich noch wie altmodische Schablonen. Mustervorlagen, mit denen die Wirklichkeit nicht mehr zu rastern ist. Die Ukraine aber, seit dem 18. Jahrhundert als »Kleinrußland« verspottet und bis zur Unabhängigkeit 1989 lediglich als Anhängsel Moskaus wahrgenommen, hat sich neue Embleme anheften lassen. Sie reichen vom Coca-Cola-Schriftzug auf farbigen Sonnenschirmen bis zu den schweren Straßenkreuzern der Mafiabosse.
Auf Riedlers Fotografien vermischt sich das neue Design der postkommunistischen Ära mit dem altem Style des homo sovjeticus. Knallbunte Wegwerfartikel sind hier ebenso anzutreffen, wie die unzerstörbar wirkenden Orden auf sowjetischen Veteranenuniformen. Neues Elend mischt sich mit altem Ehrgefühl. Sowohl die intimen Porträtfotografien des Buches als auch die wie zufällig vom Straßenrand aufgepickten urbanen Landschaften verdeutlichen, dass im zweitgrößten Land Europas das nachgeschichtliche Credo vom »anything goes« seine ganz eigene Ausprägung erfahren hat. In den vier Jahren, die Reiner Riedler die Ukraine mit der Kamera durchstreift hat, hat er eindrucksvolle Dokumente einer nationalen Identitätsfindung zusammengetragen.
Die Frage nach der Wirklichkeit in diesem fast vergessenem Teil Osteuropas bleibt für den Betrachter jedoch offen. Kaum meint man, in den abgemergelten Körpern von Kindern und Greisen ein realitätsabsicherndes Klischee geortet zu haben, wird es von touristischen Impressionen der Küste Odessas erneut gebrochen. Die epochale Zäsur des Jahres 1989 wird somit zu einem ästhetischen Problem. Der Sinn, den die Fotografie bis dato immer in der Oberfläche vermutet hatte, entwindet sich bereits beim ersten Hingucken. Feste Aussagen über die Realität lassen sich so nicht mehr treffen.
Reiner Riedler: Ukraine. Otto Müller Verlag, Salzburg 2003, 112 S., 32 EUR
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