Leise trällert aus dem ersten Stock des Kronprinzenpalais in Berlin ein alter Schlager: "Liebling, mein Herz lässt dich grüßen", Titelsong des gleichnamigen Films mit Lilian Harvey und Willy Fritsch aus dem Jahr 1930. Konservierte Grüße aus der Weimarer Republik; Liebeskitsch, auf Zelluloid haltbargemacht und über die Zeit gerettet. Ebenso gerettet: 350 Bilder, die momentan an den Wänden des Palais hängen, in dem vorübergehend das Deutsche Historische Museum untergebracht ist. "Das Gesicht der Weimarer Republik - Menschenbild und Bildkultur 1918 - 1933" so der Titel dieser Ausstellung. Die Augen aus den Golden Twenties glotzen einen an, und man selbst schaut neugierig zurück.
Geordnet in fünfzehn Schaukreise - von "Der Sichtbare Me
chtbare Mensch" bis zu "Person und Persönlichkeit" - wurde im Kronprinzenpalais nicht nur zusammengetragen, was in den Zwanzigern Rang und Namen hatte, sondern zudem zufällige Schnappschüsse unbekannter Amateurfotografen und längst vergessene Bilder aus den damals aufkommenden illustrierten Zeitungen. Von den Fotografien aus August Sanders Projekt "Menschen des 20. Jahrhunderts" bis zu den Zeichnungen George Groszs, von Heinrich Hoffmanns Hitler-Porträts bis zu der weißen Frau auf dem Persilplakat. Die einzige Verknüpfung, die zwischen den Ausstellungsstücken zu bestehen scheint, ist neben dem Entstehungszeitraum das Besitzverhältnis. Der Großteil der Exponate stammt aus der Privatsammlung Hans Puttnies, Professor für Kommunikationsdesign in Darmstadt und Kurator des Museums.Puttnie legt auch die Marschrichtung fest: Es soll das Bild gezeigt werden, das die Menschen von sich selbst entworfen haben. Zu oft, so heißt es im Konzept der Ausstellung, sei die Weimarer Republik auf Avantgarde und Präfaschismus reduziert worden. Es sei an der Zeit, das Bildmaterial einmal anders zu sichten, um so den Zwanzigern in ihrer Gesamtheit gerecht werden zu können. Keine Glättung der scheinbaren Widersprüche, sondern Aushalten und Sichtbarmachen der Brüche und Differenzen."Objekte der Melancholie" hat die amerikanische Essayistin Susan Sontag einmal die Menschen genannt, die man auf Fotopapier verewigt hat wie aufgepiekste Schmetterlinge und die in ihrer künstlichen Unvergänglichkeit uns unsere eigene Sterblichkeit bewusst machen können. Für die Porträts aus der Weimarer Republik mag diese Feststellung eine besondere Bedeutung haben. Zu groß ist unser Glaube daran, dass es sich bei der Zeit zwischen den Weltkriegen um ein goldenes Zeitalter handle, dessen Menschen noch nichts ahnten von der bereits lauernden Katastrophe und die noch unbefleckt waren von "der deutschen Schande". Die Zwanziger, das ist die Dekade der Extreme, die Zeit der sozialen Experimente und der ersten sexuellen Freizügigkeiten, von gesteigerter Urbanität und technischem Fortschritt. Schnell vergessen aber ist, dass vieles, was wir heute über diese Zeit zu wissen meinen, sich eben gerade nur aus ihren Bildern speist.Marlene Dietrich im "Blauen Engel", der todessüchtige Irrsinn aus den Stummfilmklassikern Nosferatu oder Das Kabinett des Dr. Caligari, die Polizeibilder des schmächtigen Massenmörders Fritz Haarmann oder die Kunstfotografien Umbos - wir haben uns unser Bild von den Zwanzigern zusammengeflickt aus den Aufnahmen, mit denen sie sich reproduziert haben. Eine Ausstellung zum Menschenbild in der Weimarer Republik ist somit fast wie ein Besuch bei entfernten Verwandten, zumindest aber wie das Blättern in alten Familienalben. Die Bildgesichter sind so bekannt, dass sie sich tief in die kollektive Erinnerung eingegraben haben.Doch Verwandtenbesuche können halt leider schnell zum Ritual werden - immer die gleichen Geschichten, immer die gleichen Redewendungen. Schön wäre es, würde man mal etwas Neues erfahren. In der Ausstellung im Deutschen Historischen Museum aber gelingt dies nur selten. Die Themenkreise sind oft zu allgemein gehalten, und die Bilder manchmal fehl am Platz. Vielleicht hätte man sich auf weniger, dafür aber dezidiertere Aspekte beschränken sollen. Statt dessen betritt der Besucher einen bunten Gemischtwarenladen. Und die im Untertitel angekündigte "Bildkultur" kommt an den meisten Stellen nicht nur viel zu kurz, sondern geht in der Bilderflut regelrecht unter.Dabei gibt es kaum eine Epoche, in der man sich so ausgiebig mit der Funktion von Bildern, mit der Bedeutung des modernen Medienwechsels oder der Veränderung des Menschen durch das Bild beschäftigt hat. Die Bedingungen für eine bemerkenswerte Ausstellung also waren mehr als günstig, Puttnies Exponate mehr als bedeutend. Allein das Kino - damals zumeist noch Kintopp genannt - hat nach seinem einmaligen Aufstieg zum "Theater des kleinen Mannes" eine Diskussion ausgelöst, wie sie emotionaler und vielstimmiger nicht hätte sein können. "Die rasche Abfolge der Bilder", schrieb etwa der Psychiater Robert Gaupp, "steigert die gemütliche Spannung ins unerträgliche. Die schauerlichen Stoffe erschüttern namentlich beim Kind und beim sensiblen Menschen das Nervensystem bis zur Qual"."Das Gesicht der Weimarer Republik" aber tut so, als ob es diese hitzigen Debatten nie gegeben hätte. Arglos werden Ölgemälde neben Schwarz-Weiß-Fotografien gehängt, während aus den Lautsprechern kleiner Fernsehgeräte die Stimmen der ersten Tonfilme erklingen. Ein Bild ist für die Ausstellungsmacher halt ein Bild. Dass die Weimarer Republik dabei den Nährboden schuf für die großen Essays Walter Benjamins oder Ernst Jüngers, die den Wandel der Bildkultur in einer Radikalität zur Sprache brachten, die noch heute nicht verstummt ist, wird völlig außer Acht gelassen.Dabei könnten gerade sie eine Erklärung dafür geben, warum uns das Bild vom Menschen aus den Zwanzigern noch immer so nachhaltig in seinen Bann zieht, und warum sich der Mythos aus Filmdiven, Revuegirls und den langen Beinen der Pola Negri nach wie vor verkauft, wie kaum ein Zweiter. "Keineswegs zufällig", so etwa Walter Benjamin im Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, "steht das Porträt im Mittelpunkt der frühen Photographie. Im Kult der Erinnerung an die ferne oder die abgestorbene Liebe hat der Kultwert des Bildes die letzte Zuflucht". Es scheint also, als ob auf den Fotografien der Weimarer Republik ein letztes Mal der naive Mensch aufschimmert - ein Wesen, das noch nicht völlig verschmolzen ist mit Technik und modernen Reproduktionsmitteln.Doch diese Idylle ist trügerisch, das Medium als Asyl für Kult und Magie schon in den Zwanzigern nur noch eine Halbwahrheit. Besonders ist es dabei die Ästhetik des aufkommenden Nationalsozialismus, die den Veränderungen nicht mehr gewachsen scheint. So zeigt die Ausstellung etwa Fotografien aus Erna Lendvai-Dircksens Fotoessay - Porträtaufnahmen im Dreiviertelprofil, die Menschen aus den verschiedensten Regionen Deutschlands in landestypischen Volkstrachten abbilden. Lendvai-Dircksens Fotos, die schon bald von den Rasseideologen dankend aufgegriffen werden und etliche Reprints in den einschlägigen Nazibibeln erfahren, sind in ihrer Verknüpfung von "Volkswesen" und modernem Medium sichtlich unkritisch.Dort wo das faschistische Projekt vom Ausstieg aus der Moderne den Gegner mit den eigenen Waffen schlagen will, scheint es von vornherein zum Scheitern verurteilt zu sein. Lendvai-Dircksens Blut-und-Boden-Bilder jedenfalls tappen leichtfüßig in die Falle des Mediums hinein. Dem Wunsch folgend, sogenannte Rassetypen abzubilden, missachtet die Fotografin die Veränderung der Menschen durch das Medium selbst. Denn ihre "Volksgesichter" scheinen bereits aufs verblüffendste austauschbar geworden zu sein. Nicht nur gleichen sie sich untereinander, zudem zeigen sie kaum noch Differenzen zu den Gesichtern und Posen der modernen Großstädter oder der internationalen Filmstars. Volkstümelei und moderne Medien scheinen bereits in den Zwanzigern nicht mehr miteinander vereinbar zu sein.Denn längst hatte sich in der Weimarer Republik herumgesprochen, was der Philosoph Sören Kierkegaard bereits siebzig Jahre vorher prophezeit hatte: "Mit Hilfe der Daguerreotypie wird sich leicht erreichen lassen, daß jeder porträtiert wird; und zur gleichen Zeit arbeitet man mit aller Macht darauf hin, daß wir alle das gleiche Aussehen haben - so daß nur ein einziges Porträt notwendig wäre". War die Veräußerung des eigenen Selbst mittels des Porträts noch bis zum Ersten Weltkrieg ein Ausdruck von Wohlstand und sozialer Macht, so konnte schon bald jeder einen Grund vorweisen, fotografiert oder gefilmt zu werden.Die Porträts als Insignien von Gewalt und scheinbarer Unsterblichkeit wurden mittels der Fotografie egalisiert und halfen dabei, die starren sozialen Herrschaftsansprüche aufzubrechen. Das Gesicht der Macht wurde abgelöst durch das Gesicht der Masse, und dieses strebte schon bald nicht mehr nach äußerlicher Individualität, sondern vielmehr nach einem modisch verordnetem Idealbild. Der Medienwandel hat das Gesicht der Weimarer Republik zunehmend demokratisiert und internationalisiert. Der nationalsozialistische Schlachtruf von der Rückkehr zu einem grotesk erscheinenden Volkswesen musste nicht nur auf Abwege, sondern geradewegs auf vermintes Gelände führen.Dem Ausstellungsbesucher mag dies merkwürdig vertraut vorkommen - ungewollt schlagen Lendvai-Dircksens faschistoide Fotografien einen Bogen in die Gegenwart. Waren die Veränderungen des Menschen durch Fotografie und Film vielleicht nur historische Randnotizen, so kommt der momentane Internetboom möglicherweise einer kleinen Revolution gleich. Und wieder einmal ist es die nationalistische Rechte, die hier einen schmerzhaften Spagat unternehmen will. Getreu dem Motto: "Weltweit surfen, aber in braunen Tümpeln baden", stampfen faschistische Organisationen ihre Websites aus dem Boden, ohne dabei zu merken, dass das Internet nicht einfach nur einem aufgehypten Volksempfänger gleichkommt. Das Abtauchen des Faschismus ins Virtuelle, vor dem Verfassungsschützer nicht erst seit diesem Sommerloch warnen, nimmt mehr und mehr groteske Züge an. Wer per Mausklick in die Vormoderne entschwinden will, der sollte eigentlich begriffen haben, dass die Welt ein Netz ist, aus dem man sich nicht gedankenvergessen ausloggen kann.Wenn man aus der Weimarer Republik und der Demokratie ohne Demokraten auch nicht immer Gutes lernen konnte, einen Trost mögen die Goldenen Zwanziger vielleicht doch noch bereit halten: die Hoffnung, dass eine republikfeindliche Minderheit auf kurz oder lang durch den Demokratisierungsschub moderner Medien auf den Weg der Tugenden zurückgeführt wird.Das Gesicht der Weimarer Republik. Menschenbild und Bildkultur 1918-1933. Bis zum 12. September im Deutschen Historischen Museum, Unter den Linden 3, Berlin
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