Deutschland hat Glück gehabt. Der kommende 9. Mai, der Tag der Einweihung des Denkmals für die ermordeten Juden Europas, er hätte auch weh tun können. Angenommen, aus den Wettbewerben zur Denkmalfindung wäre nicht der Entwurf "Eisenman II" sondern das Konzept von Horst Hoheisel hervorgegangen, die Einweihungsfeierlichkeiten würden anders aussehen. Hoheisel hatte einen Vorschlag mit Sprengwirkung ins Rennen geschickt. Eine Idee frei von jeder Schönheit. Unter dem Titel "Sprengt das Brandenburger Tor in die Luft" sah sein Entwurf vor, eines der zentralen Monumente deutscher Identität zu zerstören. Berlins Wahrzeichen, es sollte zerschreddert und abschließend versiegelt werden. Erst wenn die Deutschen bereit wären, ein bedeutendes Symbol ihrer Nation zu opfern, so Hoheisels Idee, wären sie in der Lage, den Verlust, den der Völkermord an den europäischen Juden hervorgerufen hat, nachzuempfinden.
Zugegeben: Die Idee hat einen ganz eigenen Charme. Dass sie sich dennoch nicht durchsetzen konnte, ist gut. Nicht nur, weil ein Genozid sich nicht eignet für symbolische Ausgleichszahlungen, sondern weil auch das größte Opfer den Holocaust nicht nachempfindbarer machen würde. Deutschland braucht keinen Ort des Spektakels. Wenn Auschwitz, wie es Dan Diner einmal formuliert hat, ein Zivilisationsbruch war, dann muss ein Mahnmal das Unheilbare zu heilen versuchen. "Mit einem Denkmal für die ermordeten Juden", so meinte etwa Jürgen Habermas, "versuchen wir, mit uns selbst ins reine zu kommen".
Viel ist in den Jahren der Realisierung des Entwurfs von Peter Eisenman darüber gestritten worden, ob man diesen Anforderungen gerecht werden kann. Zweifel waren angebracht. Schnell lautete daher die Minimalformel, dass das eigentliche Mahnmal der Streit ums Mahnmal sei. Das Memorial ist der Dissens. Wenn dem so ist, dann geht in diesen Tagen ein jahrelanges Work in Progress zu Ende.
Die 2.700 Betonpfeiler, die Eisenman wellenförmig auf dem Territorium der ehemaligen Ministergärten errichten ließ, wären demnach sekundär. Aber sie werden bleiben, auch wenn die kulturpolitischen Streitereien längst vergessen sein werden. Eisenman, der Intellektuelle unter den gegenwärtigen Großbaumeistern, hat mit dem Stelenfeld einen spirituellen Raum bauen wollen. Ein Denkmal ohne Symbole. Für den Holocaust, so ist er überzeugt, kann es kein Symbol geben. Das Unfassbare erlaube keine Katharsis.
Und genau in dieser Anschauung liegt die Brisanz. Sie ist der vorläufige Schlussstrich unter einer jahrzehntelangen Debatte um die Darstellbarkeit von Auschwitz. Spätestens mit dem Jahr 1945 als die Gräueltaten der Nationalsozialisten ins Bewusstsein der Weltöffentlichkeit drangen, stand die Frage im Raum, ob es überhaupt möglich sei, sich in künstlerischer Form hiermit auseinander zu setzen. Mehr noch: Ob die kontemplative Haltung des Künstlers zur Welt nicht für alle Ewigkeit verspielt hätte.
Ausgelöst von Theodor W. Adornos längst bis zur Inhaltslosigkeit zitiertem Diktum, dass nach Auschwitz keine Gedichte mehr zu schreiben seien, gewann ein nicht enden wollender Diskurs an Fahrt. Da mochte Johannes Gross noch Jahre später spotten, es verhielte sich in Wahrheit so, dass Adorno auch vor Auschwitz keine Gedichte schreiben konnte - an der Gesetzestafel aus dem Frankfurter Thinktank führte kein Weg mehr vorbei. Sie war wegweisend für die beginnende Zeichensetzung zum Holocaust.
1962 dann erfolgte die Revision. "Weil jedoch die Welt den eigenen Untergang überlebt hat", so Adorno nun, "bedarf sie gleichwohl der Kunst als ihrer bewußtlosen Geschichtsschreibung. Die authentischen Künstler der Gegenwart sind die, in deren Werken das äußerste Grauen nachzittert". Mit Peter Weiss und Rolf Hochhuth begann die Zeit des Realismus. Auschwitz durfte nicht länger mehr ein Inhalt ohne Zeichen bleiben. Wollte man weiterleben nach dem Untergang der Welt, so musste die Kunst noch einmal ihre ursprünglichste Funktion bekommen: das Ordnen einer angsteinflößenden Wirklichkeit.
Doch irgendwann war Schluss damit. Die einen, wie der Regisseur Roberto Benigni, filterten die Historie solange aus der Kunst, bis ein KZ zur Kulisse für eine Clownerie herhalten konnte. Die anderen, wie der Schriftsteller Martin Walser, kamen ohne Wegschauen nicht mehr durch den Tag.. Der Endpunkt dieser piktorialen Auswaschung: Ein Mahnmal ohne Symbole. Ein Raum so groß wie ein Fußballfeld, der gegenüber den geschichtlichen Ereignissen gleichgültig ist.
Mit Peter Eisenman mündet die Kunst nach Auschwitz in ein anorganisches Schweigen. In überdimensionalen Signifikanten, aus denen schon längst das Zu-Bezeichnende herausgearbeitet worden ist. Die einstmals lebhafte Erinnerung an das, was in Auschwitz geschah, findet in einem "sündenstolzen" (Hermann Lübbe) Gedächtnisraum seine letzte starre Form. In der Geschichte der Darstellung des Holocausts ist aus dem Inhalt ohne Zeichen ein Zeichen ohne Inhalt geworden: ein Mnemoraum, in welchem kein Mnemorat mehr auffindbar ist.
An Stelle von Fragen und Wissen ist pathetische Kälte getreten. Nicht nur, dass Eisenmans Stelenfeld monumental ist. Mit jedem glatten Betonpfeiler widersetzt es sich menschlicher Logik. "Heute können wir", so hat der New Yorker Architekt einmal behauptet, "die Vergangenheit nur durch eine Manifestation in der Gegenwart verstehen". Das klingt bedeutungsvoll. In Wahrheit aber ist es ein Schlag ins Gesicht nicht nur der Holocaustforschung der letzten Jahre, sondern auch jener Kunst, die stets mehr wollte als dekorative Empfindsamkeit.
Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas, das sein Architekt jüngst in der Wochenzeitung Die Zeit mit einem Gemälde von Caspar David Friedrich oder einer Wagner-Oper verglichen haben wollte, ist kein Denk- sondern ein Erlebnisraum. In seiner Enge, seiner labyrinthischen Form, seinen wellenförmigen Gängen will es Geschichte nicht reflektieren sondern sie in ein emotionales Ambiente überführen. Zur Simulation aber ist Auschwitz denkbar ungeeignet. Das Grauen, es mag nicht fassbar sein. Fühlbar aber ist es schon gar nicht.
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