Souverän ist, wer über die Sperrgebiete verfügt: Verbotene Orte oder verwunschene Zimmer, die schon im klassischen Märchen für erheblichen Aufruhr sorgen konnten. Einmal betreten oder nur kurz hinter ihr Geheimnis gelugt, und die Geschichte konnte eine tragische Wendung nehmen.
Die gefährlichste no-go-area der Wirklichkeit liegt in den ukrainischen Städten Pripjat und Tschernobyl. Nachdem hier am 26. April 1986 der legendäre Reaktorblock 4 des dortigen Kernkraftwerks durch zwei Explosionen erschüttert wurde, gab es eine radioaktive Strahlung von 50 Millionen Curie - das Dreißigfache der Hiroshimabombe.
Die Bewohner der Städte rund um die Anlage wurden über diese Katastrophe zunächst nicht informiert. Zwar hörten sie die Explosion, das freigesetzte radioaktive Material aber verschwieg man ihnen. Erst 38 Stunden später erfolgte der Exodus. Zunächst 50.000 Menschen, später 116.000 wurden durch die damalige Regierung umgesiedelt.
Im Umkreis von 30 Kilometern entstand eine Sperrzone. Noch heute ist es verboten, näher als zehn Kilometer vom stillgelegten AKW entfernt zu siedeln. Lediglich alte Leute, die ihre Rechnung mit der Zukunft gemacht zu haben scheinen, leben noch in dieser Region der Ukraine. Verseuchte Natur, keinerlei Versorgung und die ständige Gefahr, der provisorische Sarkophag über dem Reaktor könnte Risse bekommen, haben aus diesem Landstrich einen schauderhaften Nicht-Ort gemacht.
Der kanadische Fotograf Robert Polidori, der durch einen Bildband über Havanna und seine langen Fotostrecken für das Magazin GEO von sich reden machte, hat diese Sperrzonen gut 15 Jahre nach dem GAU besucht. Die fotografischen Fundstücke von diesem verbotenen Ort hat der Steidl Verlag nun in einem großen Fotobuch zusammengestellt.
"Die Halbwertzeit der radioaktiven Elemente", so Polidori, "unterliegen nicht der beschleunigten Amnesie". Und so ist seine Reise vornehmlich eine Expedition zum toten Winkel unserer Wahrnehmung. Während Tschernobyl als Metapher für die Risiken und Gefahren der Kernenergie allenfalls noch an den Jahrestagen des Unglücks durch die Medien geistert, existiert der reale Ort weiter - verwuchert, geplündert und vergessen. Auf den größtmöglichen Unfall reagierte die Öffentlichkeit mit größtmöglicher Verdrängung.
Polidori holt diese Wirklichkeit zurück: Geisterstädte, zerstörte Landschaften, verlassene Straßen. So wie der Name zu einem Symbol erstarrt ist, so scheint auch in Tschernobyl selber die Zeit regungslos und zäh geworden zu sein. Manche Datschen und Häuser etwa sind derart zugewuchert, dass sie wie Märchenkulissen erscheinen. In Tschernobyl aber gibt es kein Happy End. Mag bei Dornröschen ein Prinz in hundert Jahren erscheinen, so beträgt die Halbwertzeit einiger der hier freigesetzten Elemente gut 300.000 Jahre. Zu lange, um auf einen erlösenden Prinzen zu warten.
In den Gebäuden herrscht das Chaos. Kaum, dass die Menschen die Gegend verlassen hatten, kamen die Plünderer. Nur manchmal noch erinnern Kleinigkeiten daran, dass hier vor wenigen Jahren ein ganz normales Leben stattgefunden hat: Klassenzimmer mit Wandtafeln, an denen eben noch ein Lehrer geschrieben haben könnte; ein Kinderriesenrad hinter einem Häuserblock. Der Rest ist Schutt und Staub und Trümmer.
Auch aus dem Zentrum des Sperrgebietes erhascht Robert Polidori einige Blicke: Ein vollkommen zerstörter Steuerungsraum des Reaktorblocks 4. Noch immer stehen hier sinnlos gewordene Armaturen, die nicht gewährleisten konnten, was das Schild über der Eingangstür versprach. "Contamination Control Post", steht dort in großen schwarzen Lettern auf einem vergilbten Schild. Ein höhnischer Kommentar auf eine Technologie, die in Tschernobyl außer Kontrolle geriet.
Doch wie an jedem verwunschenen Ort: Das Eigentliche bleibt unsichtbar. Die Kultwerke, die in verbotenen Tempeln den Geistern zugedacht waren oder die Götterstatuen denen magische Energie zugesprochen waren, sie bleiben auch in der Sperrzone Tschernobyl für die Menschen unzugänglich. Unter Tonnen von Beton, Brennmaterialien und Staub liegen noch immer die Teile des Reaktorkerns. Und mit ihm 200 Tonnen Uran und eine Tonne radioaktives Plutonium.
Die Sperrzone um Tschernobyl scheint somit nicht nur zum Schutz des Menschen vor radioaktiver Strahlung geschaffen zu sein. Vielmehr markiert sie einen bewussten weißen Fleck auf der Landkarte unserer Wahrnehmung. Ein Ort, jenseits der gewohnten Sinnes- und Empfindungsmuster. Robert Polidori hat mit seinem Bildband zurückgebracht, was in unserer Weltauffassung lange nichts zu suchen hatte: Ein Buch über nicht weniger als die Vorstellbarkeit des Unvorstellbaren.
Robert Polidori: Sperrzonen. Pripjat und Tschernobyl. Steidl, Göttingen 2004, 112 S.,
60 EUR
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