Wenn der Krieg mit dem Hund wedelt

Massenmord Zehn Jahre nach Srebrenica erinnert eine Fotoausstellung an die Probleme mit der Wirklichkeit

"Es drängte mich hinter den Spiegel". 1991 packte sich Peter Handke noch flugs verbalen Überschwang wie diesen in den Koffer und entschwand in das vom Bürgerkrieg zerrüttete Jugoslawien. "Beinahe alle Bilder", so seine Klage, "kamen ja von einer Seite der Fronten. Und wenn sie zwischendurch auch einmal von der anderen kamen, erschienen sie mir als bloße Spiegelungen der eingespielten Blickseite - als Verspiegelungen in unseren Sehzellen selber".

Nicht nur Intellektuelle bekamen damals vermehrt den Eindruck, dass unter Fernsehbildern und Pressefotografien die Wirklichkeit verschwand. Namhafte Fotojournalisten wie James Nachtwey oder Gilles Peress, die jahrelang versucht hatten, die Gräuel des Bürgerkriegs in ihren Bildern zu vermitteln, mussten sich von Handke eine eigene Verwicklung in den Krieg nachsagen lassen. Die Kritik mündete schließlich in Jean Baudrillards Befund, Bosnien, das sei eine "hyperreale Hölle".

Kaum jedoch, dass der Krieg vorbei war, waren auch seine Abbilder entschwunden. Erst jetzt, zehn Jahre nach dem Völkermord in Srebrenica, schaut eine breite Öffentlichkeit noch einmal zurück. So nahm die Heinrich-Böll-Stiftung den Jahrestag von Srebrenica zum Anlass für eine Fotoausstellung. Unter dem Titel Erinnerung für die Zukunft zeigte die Stiftung nicht nur Bilder von renommierten Reportagefotografen wie Simon Norfolk oder Roger Hutchins, sondern ebenso von Bildjournalisten, die erst das Grauen in ihrer Heimat zu Kriegsfotografen gemacht hatte. Darko Bandic, Danilo Krstanovic oder Acif Hodovic, sie hätten vermutlich lieber Tier- oder Landschaftsaufnahmen gemacht. Stattdessen sind sie Augenzeugen von den Nachwirkungen eines Völkermordes geworden.

Gut 8.000 bosnische Jungen und Männer verloren zwischen dem 11. und dem 20. Juli 1995 in Srebrenica ihr Leben. Mitten in einer UN-Schutzzone wurden sie zu Opfern der wütenden Tschetniks des Radovan Karadzic und Ratko Mladic. Seit jenen neun Tagen im Juli 1995 ist die bosnische Kleinstadt zum dunklen Flecken des alten Kontinents geworden. Srebrenica symbolisiert das Scheitern der europäischen Nachkriegsethik: Eine Generation, die es ihren Eltern nie glauben wollte, dass sie von Auschwitz nichts gewusst hätten, wusste von Srebrenica alles, und glaubte nichts.

Mit jedem Bild, das die historische Wahrheit unterfüttern sollte, schienen die Zweifel eher zu wachsen als abzunehmen. Susan Sontag, die zwei Jahre zuvor in der bosnischen Stadt Sarajevo gewesen ist, schrieb damals, dass dieser Krieg wie eine permanente "Wiederausstrahlung" wirkte. "Wir werden es müde, dieselbe Show anzuschauen. Wenn sie unwirklich scheint, dann deshalb, weil sie zugleich so entsetzlich und scheinbar so unaufhaltsam ist." Die selbe Show, das waren die in ihrer Motivik stets gleichen Bilder von Flüchtlingslagern und Massengräbern, von Stacheldraht und Leichentüchern. Bilder, wie die des Fotografen Darko Bandic, der während der Juli-Tage von Srebrenica eine vollkommen apathisch dreinblickende Flüchtlingsfamilie im UN-Stützpunkt Tuzla aufgenommen hat. Oder die von Danilo Krstanovic. Noch Jahre später hielt der seine Kamera in ein Erdloch bei Bratunac und brachte so das Bild von vier verwesenden Leichen aufs Fotopapier.

Die Ausstellung zu Srebrenica belegt Sontags Aussage nachdrücklich: Der Bosnienkrieg war entsetzlich. Unwirklich aber wurde er erst, weil man ihn für unwirklich halten wollte. Was zum Handeln hätte auffordern müssen, wurde zum Quotenhit im Abendprogramm. Selbst heute, wo noch immer die Bilder von Exhumierungen ins Wohnzimmer flimmern, will man sie lieber für Alpträume denn für Wirklichkeit halten. Am Ende des Jahrhunderts der Gewalt durfte es keine Gewaltdarstellungen mehr geben, die mehr waren als Nacherzählungen aus einer längst untergegangenen Epoche.

Geschützt im Unterholz der Medienkritik spielen die Ausgebufftesten selbst zehn Jahre später noch mit der Wahrheit Katz und Maus. Als etwa am 1. Juni dieses Jahres im Rahmen des Prozesses gegen Slobodan Milosevic ein Video vorgeführt wurde, auf dem die Tötung von sechs Zivilisten durch Angehörige der Sondereinheit "Skorpione" dokumentiert war, machte sich der "Verband Arbeiterfotografie" daran, die Bilder mit gängigen Taschenspielertricks in Zweifel zu ziehen.

Getreu dem Motto: "Manipuliert ist, was nicht wahr sein darf", spricht man vom "grafisch künstlerischen Charakter" der Bilder und geht gar soweit, einem auf dem Video gezeigten Baum einen zu langen Schatten vorzuwerfen. Wer diese Einlassung des Verbandes liest, der fragt sich, wer hier wirklich zum Narren der Medien geworden ist. Nur weil man es einst bei Barry Levinson im Fernsehen gesehen hat, muss nicht in jedem Film ein Schwanz mit dem Hund wedeln.

Gut zehn Tage vor dem Genozid in Srebrenica hat Marieluise Beck, Bundestagsabgeordnete der Grünen, bereits ausgesprochen, was weite Teile der Friedensbewegung bis heute nicht wahrhaben wollen: "Auschwitz wurde von Soldaten befreit". Man mochte Beck diese Parallelstellung des Grauens verübeln. Letztlich aber traf sie ins Schwarze.

Ihr Statement jedoch führte nicht selten zu einer zynischen Rückkoppelung. Nicht nur, dass etwa der einstige Botschafter der DDR in Jugoslawien, Ralph Hartmann, von einer neuen Auschwitz-Lüge zu fabulieren begann, vielmehr hatte es den Anschein, dass es von da an ein unausgesprochenes Echtheitskriterium für Bilder gab. Da Auschwitz unvergleichbar war, konnten plötzlich nur jene Bilder noch wahr sein, die nicht den Code der Vernichtung in sich trugen. Bilder von Zivilisten hinter Stacheldraht, von geöffneten Massengräbern und ausgemergelten Kindern, sie wurden zurückgewiesen, da sie einen Teil von jener Bildsprache transportierten, die Margret Bourke-White und andere Fotografen 1945 in den Todeslagern der Nazis vorfanden.

In einem ausführlichen Buch zu der Srebrenica-Ausstellung schreibt der einstige SPD-Abgeordnete Freimut Duve: "Eine Konsequenz aus den Verbrechen von Auschwitz habe ich immer als die schrecklichste empfunden: dass nämlich die Einmaligkeit des Verbrechens alle Nachfolgenden als ›Nicht-Auschwitz‹ relativiert." Eine Wahrheit, die den ganzen Zynismus der Untätigkeit in sich birgt. Die vornehmlich unter Linken geführte Debatte über die Unvergleichbarkeit des Holocausts im Schatten der "hyperrealen Hölle" von Bosnien war nicht nur ein Schlag ins Gesicht der Opfer von Srebrenica, sondern auch eine Verhöhnung der Toten aus den nationalsozialistischen Todesfabriken. Diejenigen, die wenige Jahre später der rot-grünen Regierung - teils zurecht - vorwarfen, sie hätte den Holocaust als Apologie für den Kosovokrieg missbraucht, hatten ihn nicht selten zuvor selbst aus der Geschichte katapultiert. Der historische Ernstfall folgt eben keinem Muster. Wenn die Bilder von gemarterten Leibern aber einen Code enthalten, dann den Aufruf zu handeln.

Statt diesen wahrzunehmen, übten sich unzählige Friedensbewegte im Zweifeln. Geschult an den Täuschungen der neunziger Jahre, tat man so, als wäre Srebrenica nicht mehr als ein weiterer PR-Coup des Benetton-Fotografen Oliviero Toscani. Eine hetzerische Marketingstrategie, die selbst Auschwitz als die letzte ethische Norm virtuell ausgehöhlt und in Besitz genommen hatte. Was aber, so müssen sich die Zuschauer des Grauens zehn Jahre nach Srebrenica fragen lassen, was, wenn hier ein letztes Mal Urbild und Abbild identisch gewesen sind? Was, wenn es in Srebrenica gar keine Spiegel gab, hinter die man hätte reisen können?

Zur Ausstellung Srebrenica. Erinnerung für die Zukunft ist unter gleichem Titel ein ausführlicher Reader mit Essays von Marieluise Beck, Vaclav Havel, Natasa Kandic, Susan Sontag und anderen erschienen. Er ist über die Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin zu beziehen. Im Herbst wird die Ausstellung in Genf, Warschau und Prag zu sehen sein.


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