Das tiefste Wesen

Porträt Christine Schorn wird völlig zu Recht vom Bundesverband Schauspiel mit dem Preis für ihr Lebenswerk geehrt
Ausgabe 36/2019

Nein, sagt Christine Schorn, ein Interview kriegt ihr von mir nicht. Dabei wollte die DEFA-Stiftung, die mit dieser Bitte an sie herantrat, durchaus keine unverbindliche Plauderei, sondern ein langes, ernsthaftes Gespräch für ihr seit Jahren gepflegtes Zeitzeugenarchiv. Ein Gespräch über Theater und Film, Leben und Kunst, Sinn und Form. Christine Schorn begründete ihre Ablehnung damit, dass die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten ihren besten DEFA-Film, vielleicht ihren überhaupt wichtigsten Film nicht ausstrahlen: Die Beunruhigung (1982). Dafür kann zwar die DEFA-Stiftung nichts, aber Frau Schorn hat ja recht. Warum dieser und viele andere Meisterwerke der deutschen Filmgeschichte nicht mehr auf dem Bildschirm stattfinden, ist Rätsel und Skandal zugleich.

Die Beunruhigung also. Geschrieben von Helga Schubert, inszeniert von Lothar Warneke, fotografiert von Dokumentarfilmkameramann Thomas Plenert in grobkörnigem Schwarz-Weiß. Da war Christine Schorn 38. Sie spielt eine Berliner Psychologin, geschieden mit Sohn und einem Freund, der verheiratet ist. Plötzlich erfährt sie von einer möglichen Krebserkrankung; von einer Sekunde zur anderen ist sie mit der Gefahr des Todes konfrontiert. Was folgt, sind Stunden der Selbstprüfung und der Prüfung von Freunden, Bekannten, Familienangehörigen. Was bleibt?

Christine Schorn ist in jeder Einstellung präsent. Verzweifelt hoffend. „Eine Zeitgenossin mit enormer Wärme“, schreibt eine Zeitung. Unvergessen, wie sie mit Spitzenkleid in der Badewanne sitzt, den Blick nach innen gerichtet. Überhaupt der Blick: Wenn Worte fehlen, sprechen die Augen.

Lothar Warneke hat später über die Schorn geschrieben: „Es gibt Menschen, die brauchen gar nicht den Mund aufzumachen, da haben sie schon Ja zum Leben gesagt. Christine Schorn gehört zu ihnen. Wenn sie das Zimmer betritt, ist nicht irgendeine Dame gekommen, sondern das Weib schlechthin – raumfüllend, besitzergreifend. Alles an ihr ist total, ihre Freundschaft, ihre Unverschämtheit und die Kraft ihres Spiels.“ Warneke wusste, wovon er sprach, er hatte sie bei der DEFA immer wieder besetzt: In Addio, piccola mia (1979), dem Film über Georg Büchner, als Frau, die den sterbenden Dichter am Krankenbett pflegt: „Am Ende, als das große Schweigen eingesetzt hatte, ging sie durch die Totenlandschaft.“ In Unser kurzes Leben (1980) nach dem Roman Franziska Linkerhand als Selbstmörderin. Und noch einmal in Eine sonderbare Liebe (1984): „Diesmal wurde der Schorn ein starker Mann (Jörg Gudzuhn) gegenübergestellt. Das war notwendig, um diese übermächtige Frauengestalt zu bremsen und das Mann-Frau-Verhältnis der tatsächlichen Geschlechterkonstellation unseres Landes anzupassen.“ Auch so ein Film, der unbedingt neu entdeckt werden müsste! Nicht zuletzt als komische Studie über Gleichberechtigung in der DDR.

Christine Schorn, geboren im Februar 1944 in Prag, beide Eltern waren Schauspieler, absolvierte ihr Studium in den frühen 1960er Jahren. Gleich danach wurde sie vom Deutschen Theater in Berlin engagiert und blieb dem Haus über fast 50 Jahre verbunden, oft mit mehr als 20 Vorstellungen im Monat. Schon ihr Einstieg, die Rolle der Sima in der sowjetischen Jugendromanze Unterwegs von Wiktor Rosow, an der Seite des ebenfalls frisch von der Schauspielschule engagierten Dieter Mann, ließ Publikum und Kritik aufmerken. Sie spielte an der Seite des österreichischen Vollblutkomödianten Wolfgang Heinz die Recha in Nathan der Weise. In der umjubelten Inszenierung Dona Rosita bleibt ledig von Federico García Lorca übernahm sie die Titelrolle; Lothar Warneke wusste noch Jahrzehnte später: „Sie stand einfach da, und das tiefste Wesen eines Menschen wurde sichtbar, die unendlichen Möglichkeiten, die sich entfalten wollen, und die Tragödie ihrer Verhinderung.“ Die Schorn wurde von legendären Regisseuren wie Friedo Solter und Thomas Langhoff, Alexander Lang und Jürgen Gosch verpflichtet: Und aus der nahezu unüberschaubaren Zahl von Spitzendarstellerinnen, die das Deutsche Theater seinerzeit besaß, ragte sie immer deutlicher heraus.

Dennoch dauerte es, bis der Film sie entdeckte. „Mir war das eigentlich recht angenehm“, resümierte die Schorn 1982, „hatte ich so doch Zeit und Ruhe, mich intensiv und Stück für Stück am Theater aufzubauen. Als Typ entsprach ich nicht unbedingt dem Publikumsgeschmack der 1960er und 1970er Jahre. Erst heute kann er aktuell werden, wo die Leute anfangen, sich selbst freier zu bewegen und andere nüchterner zu beurteilen. Und nicht mehr nur fragen: Dick oder dünn? Wo ist die Schönheit?“ Wie im Theater, so galt für sie auch vor der Kamera der Grundsatz, die jeweilige Rolle nicht zu sich herabzuziehen, sondern zur Figur des Stücks oder des Films „hinaufzusteigen“. Demut und Weisheit als Treibmittel ihrer Kunst.

Seit 1990 ist sie auch im gesamtdeutschen Kino und Fernsehen präsent; fast 150 Einträge zählt die Filmdatenbank, davon rund 90 nach dem Ende der DDR. Jetzt sind es, natürlich, Mütter und Großmütter, die sie spielt, zuletzt in Edward Bergers All My Loving. Wenn die Schorn ihre Figuren dabei nun öfter nuscheln lässt, mit unergründlich wissendem Lächeln, hat das nichts mit sprachlichem Unvermögen zu tun, sondern mit den Verschleifungen eines langen Lebens, die sich in den ganzen Menschen einschreiben. „Gedehnte Hast, beiläufige Behäbigkeit, kunstvolle Alltäglichkeit“ nennt das der Bundesverband Schauspiel, von dem die 75-Jährige nun mit dem Preis für ihr Lebenswerk ausgezeichnet wird.

Ralf Schenk ist Filmkritiker und -historiker sowie Vorstand der DEFA-Stiftung

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