Umfragen sagen für die spanischen Parlamentswahlen am 14. März einen Sieg der rechtskonservativen Volkspartei (Partido Popular) voraus. Unter ihrem Generalsekretär Mariano Rajoy, der den keine dritte Amtszeit anstrebenden José María Aznar als Regierungschef ablösen will, liegen die Konservativen zur Zeit mit neun Prozent vor der Sozialdemokratie und könnten damit die absolute Mehrheit erringen. Der PSOE (Partido Socialista Obrero Español) unter seinem Vorsitzenden Luis Rodríguez Zapatero hat nur in Verbindung mit den katalanischen, baskischen und galizischen Regionalparteien eine Siegchance. Vor diesem Hintergrund ist die Neuverhandlung der Machtverhältnisse zwischen Madrid und den Regionen zu einem zentralen Wahlkampfthema geworden. Vorrangig im Baskenland und in Katalonien ist der Ruf nach größerer Eigenständigkeit wieder lauter zu hören und der historische Konflikt zwischen dem Zentralstaat und den eher republikanisch orientierten Regionen erneut aufgebrochen.
Die Ortschaft Lizartza unweit der Küstenstadt San Sebastián liegt in einem tiefen Tal, das der Araitz-Fluss an dieser Stelle in die Pyrenäenausläufer gegraben hat. An den Hängen stehen die klobigen, für das Baskenland so charakteristischen Bauernhäuser, das Flussufer hingegen säumen fünfstöckige Industriearbeiterquartiere. Bewegt man sich hier mit gewöhnlichen Straßenkarten, sorgt das für erhebliche Probleme: Auf den meisten Schildern sind die spanischen Ortsnamen von Sprayern übermalt.Wer den häufig verwirrenden baskischen Konflikt verstehen will, kann in der kleinen, an Frankreich angrenzenden Provinz Gipuzkoa am ehesten Erklärungen finden. Das Entstehen einer neuen Unabhängigkeitsbewegung, die sich vom christlichen Konservativismus der Baskisch-Nationalistischen Partei (PNV/*) links abgrenzt und zugleich den Zentralstaat kompromisslos angreift, hat viel mit der Sozialstruktur der Region zu tun.
In den oft nur einige tausend Einwohner zählenden Ortschaften wurde auch in den Zeiten einer rabiaten Verfolgung durch die Franco-Diktatur unbeirrt baskisch gesprochen, auch war die Bevölkerung der von Metall- und Papierindustrie geprägten Region proletarisiert genug, um sich selbst zu organisieren und aktiv zu werden. Schon in den sechziger Jahren verschmolzen die Arbeitskämpfe mit einer kulturellen Renitenz, die sich den hochgradig nationalistisch motivierten Assimilationsbestrebungen des Zentralstaats widersetzte. So entstand ein politisches Selbstverständnis, das sozialistisches Gedankengut und republikanischen Anti-Monarchismus mit der eher konservativen Pflege von Sprache und Traditionen in Einklang brachte. Diese Haltung ist in der Provinz bis heute verankert. Die linksnationalistische Koalition Batasuna, die sich sozialen Bewegungen und antikapitalistischer Gewerkschaftsarbeit ebenso wie baskischer Kulturpflege verpflichtet fühlt, war bis zu ihrem Verbot 2002 bei Wahlen mit etwa 25 Prozent der Stimmen fast immer stärkste Partei in Gipuzkoa.
"Fallschirmspringer" für Lizartza
Maider Agirrebarrena und Agurtzane Zubeldia, zwei alternativ gekleidete Frauen Mitte 20, sind gewählte, allerdings nicht offiziell anerkannte Gemeinderäte in der Ortschaft Lizartza, die bei den Kommunalwahlen im Mai 2003 zu einem Symbol dessen wurde, was selbst Vertreter der bürgerlichen Autonomieregierung als "nicht-deklarierten Ausnahmezustand" bezeichnen. Die Regierung Aznar hatte Batasuna kurz vor den Wahlen als "politischen Arm der ETA" (**) verboten und sämtliche Gruppierungen zu Nachfolgeorganisationen Batasunas erklärt, auf deren Listen auch nur ein einziger Kandidat auftauchte, der zuvor schon einmal für die Linkskoalition angetreten war. "In Lizartza" - so Agirrebarrena - "wurden auf diese Weise 50 Personen vom Gemeinderat ferngehalten, so dass es schlichtweg nicht mehr genug Leute gab, die für eine Kandidatur in Frage kamen." Die verbotenen Listen traten schließlich mit eigenständigen, ebenfalls kriminalisierten Wahlzetteln an. 63 Prozent der Wähler Lizartzas (15 Prozent im Baskenland insgesamt) votierten mit illegalen Stimmzetteln für ausgeschlossene Kandidaten, obwohl klar war, dass sie "ungültige" Stimmen abgaben. "Wir befinden uns in einer Situation", bemerkt Zubeldia resigniert, "die der während des Franquismus in nicht mehr viel nachsteht. Madrid hat im Baskenland zwei Tageszeitungen, ein Radio, eine Monatszeitschrift, mehrere Menschenrechtskomitees, zwei Jugendorganisationen, die drittstärkste Partei des Landes und Hunderte von lokalen Gruppierungen verboten."
Für Lizartza ist die Lage besonders absurd. In der an der alten Nationalstraße von San Sebastián nach Pamplona gelegenen Ortschaft wurde ein Politiker zum Bürgermeister ernannt, der weder von seinen Bürgern gewählt wurde, noch in der Gemeinde wohnt. Der PNV als stärkste Basken-Partei hatte in vielen Orten so genannte "Fallschirmspringer" abgesetzt, nachdem dort auch auf den nicht-verbotenen Listen niemand mehr kandidieren wollte. In Lizartza platzierte die Partei ihren damaligen Frontmann Joseba Egibar, der sich auf Landesebene zwar lautstark gegen das Verbot der Linkskoalition geäußert hatte, aber bereitwillig die Gelegenheit nutzte, die traditionelle Batasuna-Bastion erstmals für die baskischen Christdemokraten zu erobern. Um Protesten der Bürger Lizartzas aus dem Weg zu gehen, taucht der PNV-Politiker bis heute nur zu abrupten Blitzbesuchen in der Gemeinde auf.
Auf meinen Einwand, dass sich die Demokratie im Baskenland auch deshalb im Ausnahmezustand befinde, weil die ETA Attentate auf Politiker von PP und PSOE verübt habe, reagieren die Gemeinderäte Agirrebarrena und Zubeldia mit Zustimmung, aber auch einem Einwand. "Die Situation für die bedrohten Kommunalpolitiker ist schrecklich, das stimmt", sagt Agirrebarrena, "aber während über ihr Leid ständig in allen Medien berichtet wird, schweigt man über das unsere. Die Guardia Civil foltert und exekutiert systematisch - die spanischen Sozialisten haben in den Achtzigern ungestraft Todesschwadronen formiert und baskische Politiker erschießen lassen. Es gibt heute 700 politische Gefangene, darunter viele, die nichts mit ETA zu tun haben. Die Krise der Demokratie beginnt nicht erst mit den ETA-Anschlägen, sondern damit, dass uns Madrid auch 30 Jahre nach Francos Tod grundlegende Rechte - wie das auf eine Volksabstimmung - mit Gewalt verwehrt. "
Martxelo Otamendi, der Chefredakteur der einzigen baskischsprachigen Tageszeitung Berria, steht den Positionen Batasunas in vielen Punkten kritisch gegenüber. Seine Zeitung bezeichnet er als progressiv und den sozialen Bewegungen verpflichtet, aber als nicht besonders radikal. "Wir gehören nicht zu denen, die ständig zum Aufstand aufrufen. Aber wenn es in Europa ein Land gibt, in dem die freie Meinungsäußerung außer Kraft gesetzt wurde, dann ist es Spanien."
Eine Plastiktüte über den Kopf
Im Februar 2003 wurde Otamendi mit neun anderen Journalisten der Vorgängerzeitung Egunkaria festgenommen. Untersuchungsrichter Baltasar Garzón hatte das Blatt schlichtweg verbieten lassen. Die Verhafteten wurden, wie Martxelo Otamendi später vor dem baskischen Parlament ausführlich beschrieb, tagelang gefoltert. "Wir erlebten nicht einfach eine Affekthandlung einiger Polizisten. Die Verantwortlichen wussten, dass wir die Folterungen öffentlich machen würden. Sie wollten allen zeigen: der spanische Staat kann selbst uns - anerkannte Journalisten - verhaften und foltern lassen, ohne dass etwas passiert." Der ehemalige Egunkaria-Chefredakteur Pello Zubiria versuchte sogar, sich umzubringen, um seinen Peinigern zu entkommen.
Jedes Jahr werden Hunderte Fälle von Folterungen auf spanischen Polizeiwachen bekannt: Die Methoden reichen von der "Plastiktüte", dem gezielten Hervorrufen von Erstickungszuständen, über Vergewaltigungen bis hin zu Morddrohungen und tagelangem Schlafentzug. Chefredakteur Otamendi: "Die Folter in Spanien ist strukturell. Polizei, Justiz und Politik haben gleichermaßen Interesse daran, dass sie angewandt wird. 90 Prozent der Verurteilungen werden auf der Grundlage von unter Folter erpressten Geständnissen getroffen. Die Effizienz des Staates in der ETA-Bekämpfung wäre prinzipiell in Frage gestellt, gäbe es die Folter nicht mehr." Bizarr erscheint dem Journalisten auch, dass Richter Garzón wohl die Folterpraxis südamerikanischer Diktatoren verfolgt, aber keinem einzigen vergleichbaren Fall in Spanien nachgegangen ist.
Otamendi ist mehr denn je von der baskischen Unabhängigkeit überzeugt. "Madrid wahrt keine demokratischen Formen mehr. Der zentralstaatliche Druck gegen die baskische Kultur wird immer größer. Offenbar können wir uns und die baskische Sprache nur schützen, wenn wir über einen eigenen Staat verfügen." Heute teilten weit mehr baskische Bürger diese Überzeugung als noch vor 30 Jahren.
Es gehört zu den in Europa verbreiteten Missverständnisse zu glauben, diese Gruppe setze sich aus nationalistischen Fanatikern zusammen. "Ich bin kein Staatenfetischist. Nationale Grenzen erzeugen bei mir keine erotischen Empfindungen", meint Otamendi mit einem Lächeln. "Aber solange die Lage in Europa so ist, wie sie ist, eröffnet staatliche Unabhängigkeit wichtige Gestaltungsräume, um die Dinge anders - und ich hoffe auch etwas progressiver - anzugehen, als das bisher der Fall ist."
(*) Partido Nacionalista Vasco
(**) Separatistische Organisation Baskenland und Freiheit
Die Regionalwahlen im Baskenland 2001
in Prozent
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