Der Autor ohne Gesicht

Untergrund-Literatur Der Schriftsteller Joseba Sarrionandia ist einer der meist gelesenen Autoren im Baskenland

In den seit mittlerweile 50 Jahren andauernden baskischen Konflikt scheint Bewegung zu kommen. Im April wird es im Baskenland Regionalwahlen geben. Der Ministerpräsident Ibarretxe hat angekündigt, im Falle eines Wahlsiegs ein Referendum über den zukünftigen Status der Region abzuhalten. Die Untergrundorganisation ETA ihrerseits will die Waffen niederlegen, wenn das Ergebnis einer demokratischen Volksabstimmung respektiert wird. Dass der älteste bewaffnete Konflikt Europas viel mit Sprache und Literatur zu tun hat, zeigt die Geschichte des seit 20 Jahren im Untergrund lebenden Schriftstellers und ETA-Mitglieds Joseba Sarrionandia.

Eine Hütte an der tropischen Atlantikküste Nicaraguas: Ein Mann friert ein. Nicht im wörtlichen Sinne - er verliert Erinnerung und Sprache. Seine Nachbarn informieren Freunde in Managua. Maribel, die glaubt, dass nur die Begegnung mit der Erinnerung Goio, den Kranken, heilen kann, macht sich auf den Weg nach Bluefields und bricht mit dem "eingefrorenen Freund" Richtung Ecuador auf. Dort lebt Andoni, der einst mit Goio auf die Schule ging. Doch die Fahrt erweist sich als zu lang und anstrengend für den Kranken. Maribel muss Goio in einem Sanatorium in der Nähe der kolumbianischen Karibikstadt Barranquilla unterbringen. Allmählich erholt sich der Kranke, doch dann muss man unerwartet erneut weiter. Spanische Geheimpolizisten haben die beiden Basken aufgespürt und wollen sie verschwinden lassen. Die Flucht wird zum Dauerzustand.

Für diesen unter dem Titel Lagun izoztua, was auf Deutsch so viel heißt wie "der eingefrorene Freund", veröffentlichten Roman erhielt der baskische Schriftsteller Joseba Sarrionandia 2001 den renommierten Preis der Literaturkritik Spaniens. Ein eigenwilliges Buch. Die Geschichte wird in drei voneinander unabhängigen Strängen erzählt. Im ersten ist von Maribels Bemühungen um den Freund die Rede, im zweiten berichtet Andoni aus Ecuador von jenem Jahr, das Goio und er zusammen in der Schule an der baskischen Küste verbrachten, und im dritten schließlich erklärt ein ungenannter Erzähler dem Kranken, wie dieser sich auf eine Antarktisreise begeben wird. Ein todkranker Wissenschaftler wird ihn als Pfleger anheuern, und Goio als Begleiter eines Sterbenden an den unbewohntesten Ort der Welt gelangen, an dem, außer einigen Pinguinen und Seerobben, tatsächlich alles gefroren ist.

Die entscheidende, jedoch kaum verhandelte Begebenheit des Romans besteht darin, dass alle Hauptpersonen Illegale sind. Sie gehören zu jenen geschätzten 2000 Basken, die zum Teil seit 25 Jahren im Untergrund leben. Viele, aber nicht alle von ihnen waren oder sind ETA-Mitglieder, haben in lateinamerikanischen Guerilla-Organisationen gekämpft, als Krankenschwestern oder Ärztinnen in Flüchtlingslagern gearbeitet oder einfach Kneipen in Tourismusorten aufgemacht. Vor diesem Hintergrund liegt nahe, dass das "Eingefrorensein" als eine Metapher für die Flucht verwendet wird. Für einen bleiernen, sprachlosen Zustand. Doch Sarrionandia kann man zu solchen Hintergründen nicht befragen. Er gehört selbst zu den 2000 Flüchtigen. Der 1958 in Iurreta im Baskenland geborene Schriftsteller wurde 1980 als ETA-Aktivist zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt und lebt seit seiner spektakulären Flucht aus dem Gefängnis Martutene 1985 im Untergrund.

Iurreta ist eine kleine Ortschaft 30 Kilometer von Bilbao entfernt. Wie das gesamte Hinterland der Provinz Bizkaia kann man auch Iurreta nicht als wirklich schön bezeichnen. Der Eisenerz- und Kohleabbau veränderte im 19. Jahrhundert das Gesicht der Region radikal. Um stets ausreichend Holz zur Erzverhüttung zur Verfügung zu haben, förderte man die Entwicklung der Forstwirtschaft. So werden die Hänge in der Region - mittlerweile für die Papierindustrie - bis heute auf rabiate Weise abgeholzt. Die großen Industrialisierungswellen in den 1950er und 1960er Jahre taten ein Übriges. An der Straße Bilbao-Donosti (San Sebastián) lässt sich kaum ein Foto schießen, auf dem nicht Fabriken, Schornsteine oder klotzige Autobahnauffahrten zu sehen wären. Wie so viele Orte im baskischen Kernland ist Iurreta ein "Industriedorf". In diesen Ortschaften, in denen sich alte Kommunikationsstrukturen gehalten haben, konnte sich kultureller Widerstand gegen die Assimilationspolitik der Franco-Diktatur mit einer neuen Arbeiterbewegung und dem Aufbruch nach 1968 verbinden. Bei den Gemeinderatswahlen 2003 votierten 20 Prozent der WählerInnen in Iurreta mit illegalen Stimmzetteln für die verbotene linksnationalistische Liste. Doch ob solche Beobachtungen einem den Schriftsteller Sarrionandia wirklich näher bringen, ist fragwürdig. Sarri, wie er von vielen freundlich genannt wird, ist seit 1980 nicht mehr zu Hause gewesen. Das Baskenland, das er kennt, existiert nicht mehr.

Wer sich auf die Spur Sarrionandias begibt, bleibt auf Schriftliches angewiesen. Seine Biografie scheint von zwei Faktoren bestimmt zu sein: der Literatur und dem radikalen politischen Aktivismus. 1978 lädt ihn Bernardo Atxaga, der im Ausland wohl berühmteste baskischsprachige Schriftsteller (Der Mann allein, 1997), ein, in der Literaturgruppe "Pott" mitzuwirken. Die Gruppe, die die baskische Kulturszene nachhaltig beeinflussen sollte, will ein Forum für die literarische Avantgarde auf Euskera bieten - ein Experiment. Die Sprache, die unter Franco verboten war, gilt als Verständigungsmittel der Bauern und Fischer und somit für moderne Erzählformen ungeeignet. Doch die Kollektive um die Zeitschriften Pott, Oh! Euzkadi und Ustela beweisen bald das Gegenteil. Sarrionandia, der immer wieder die Eigenständigkeit der Sprache gegenüber den Inhalten einfordert und trotz seiner ETA-Mitgliedschaft jeden nationalen Essenzialismus ablehnt, veröffentlicht Gedichte, Erzählungen und Übersetzungen. 1981 erscheint sein erster Gedichtband, 1983 Erzählungen, weitere zwei Jahre später das aus Notizen und Essays bestehende Ni ez naiz hemengoa, das im Baskenland den Status eines kleinen (heute allerdings etwas überholt anmutenden) Klassikers innehat (Von Nirgendwo und Überall, 2002). Doch zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichungen ist Sarrionandia schon nicht mehr auf freiem Fuß. 1980 wird er, 22-jährig, als ETA-Mitglied festgenommen und einige Zeit später wegen der Beteiligung an Anschlägen verurteilt.

Ein Prominenter, von dem niemand weiß, wie er heute aussieht. Auf dem Cover des Buchs Bost Idazle, in dem der Journalist Hasier Etxeberria die fünf berühmtesten baskischen Schriftsteller vorstellt, sind Fotos der Autoren zu sehen: vier Gesichter und ein Hinterkopf. Bernardo Atxaga, der sich trotz seiner Ablehnung gegenüber ETA die Freundschaft zu Sarrionandia bewahrt hat, sagt über die Rolle des illegalen Autors für die literarische Öffentlichkeit: "Niemand weiß, wo er ist, aber alle warten gespannt auf seine Bücher." Tatsächlich gehört Sarrionandia zu den meistverkauften baskischsprachigen Autoren; ein untypischer Bestseller-Autor.

Der Begriff "Bestseller" ist im Baskischen allerdings sehr relativ. Nur etwa eine Million Menschen sprechen das Euskera, das seine Wurzeln im Idiom einer europäischen Urbevölkerung hat. Interessanterweise ist diese alte und marginalisierte Sprache in den vergangenen 40 Jahren mit einer lebendigen und bisher vergleichsweise wenig marktförmigen Literatur- und Musik-Szene fusioniert. Das Baskische gilt immer noch als Ort des Experiments und der Widerständigkeit. Seine Aneignung nach der Franco-Diktatur war für eine ganze Generation Ausdruck politischer Gesinnung, und trotz des Autonomiestatuts ist die Verwendung des Euskera, das in Spanien und Frankreich nach wie vor nicht gleichberechtigt behandelt wird, bis heute ein Politikum. Diese Begebenheit erklärt vielleicht am ehesten, warum in der keineswegs besonders intellektuell geprägten Unabhängigkeitslinken die Auseinandersetzung mit Literatur einen überraschend großen Raum einnimmt. Sarrionandias Bücher werden auf jeden Fall von vielen gelesen, die mit moderner Literatur sonst nicht viel anfangen könnten.

Am Nachmittag zurück in Bilbao. Ich sitze mit Freunden in einer Kneipe der alternativen Baskischsprachschulen AEK, die wie so viele Organisationen vom Untersuchungsrichter Garzón 1998 kriminalisiert und zeitweise verboten wurden, und unterhalte mich über die Polizeiaktionen der letzten Zeit. Auf eigenartige Weise führen die Gespräche immer wieder zu dem Schriftsteller Sarrionandia zurück.

Im Oktober 2004 wurde der ETA-Führer Mikel Albizu "Antza" im südfranzösischen Béarn in Begleitung seiner Frau und seines Sohnes verhaftet. Auch Albizu, der 1985 untertauchte, hat, wie man mir am Tisch erzählt, all die Jahre geschrieben. Bevor er in den Untergrund ging, aber auch während seiner Zeit in der Illegalität: Theaterstücke, Prosa, Songs. Einige Lieder der legendären Punkrock-Band Kortatu, deren Sänger Fermin Muguruza später die Band Negu Gorriak und das Label Metak gründete und heute im spanischen Staat außerhalb des Baskenlandes faktisches Auftrittsverbot hat, stammen aus der Feder Albizus. Für Kortatu wiederum war Sarrionandia ein Symbol. Die Band, die den Rock "Radical Vasco" mit aus der Taufe hob, widmete dem Schriftsteller in den Jahren um 1985 einen Song, der im Baskenland zum Schlager wurde. Doch die Verbindung ist noch direkter. Der spätere ETA-Führer Albizu tauchte 1985 unter, weil er als Fluchthelfer agierte. Bei einem Konzert hatte er sich, so heißt es, als Tontechniker ins Gefängnis von Martutene eingeschlichen und in Musikboxen zwei verurteilte ETA-Mitglieder aus der Haftanstalt geschafft. Einer der beiden Flüchtigen war Joseba Sarrionandia.

Vielleicht ist es auch ein wenig persönliche Loyalität, die Sarrionandia, der Gewalt kritisch als "Desaster" und "Ausdruck eines Scheiterns der Politik" bezeichnet, niemals hat abschwören lassen. Man würde ihn gern dazu befragen, sage ich zu Haritz, der baskische Philologie studiert hat und jetzt Förster werden will. Der Freund, der neben mir am Tresen steht, nickt: "Es gäbe viele Dinge, über die man sprechen möchte. Aber so lange der Konflikt weitergeht, wird es dazu nicht kommen." Es ist immer wieder zu spüren, auch wenn in den Medien darüber nicht gesprochen wird: Nicht nur die Gewalt der ETA, sondern auch die Erbschaft des Franquismus und des wenig demokratischen Übergangs nach dem Tod des Diktators - die monarchistische Verfassung wurde 1978 von der baskischen Bevölkerung abgelehnt und auch das Autonomiestatut ein Jahr später wäre ohne die Interventionsdrohungen der spanischen Armee wahrscheinlich nicht angenommen worden - bis heute schwer auf dem spanischen Baskenland.


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