Kein anderer Begriff beschreibt das politische Klima Venezuelas dieser Tage treffender als das Wort "Misstrauen". Zwischen Regierungs- und Oppositionslager verläuft nach fünf Jahren Konfrontation ein derart tiefer Graben, dass selbst gute Nachrichten nur noch als schlechte interpretiert werden können. So begründete Vizepräsident José Vicente Rangel vergangene Woche seine Sorgen über die Zukunft des Landes ausgerechnet mit der Schwäche des oppositionellen Wahlkampfs. Die Stille der bürgerlichen Parteien sei verdächtig, äußerte Rangel, man habe den Eindruck, die Rechte habe das Referendum bereits abgeschrieben und bereite stattdessen den nächsten Verfassungsbruch vor.
Man kann dem Vizepräsidenten seine Irritation durchaus abnehmen. Tatsächlich macht Caracas in den Wochen vor dem entscheidenden Amtsenthebungsreferendum gegen Präsident Chávez am 15. August einen erstaunlich ruhigen Eindruck. Nachdem die Opposition in den Jahren 2002 und 2003 fast täglich Kundgebungen organisierte und die innenpolitische Stimmung anheizte, führt sie nun einen fast schon lustlos wirkenden Wahlkampf. Dass von ihrer Kampagne für das "Si", also für die Abberufung von Chávez, in den Armenvierteln nichts zu sehen ist, kann dabei nicht weiter überraschen. Die bürgerlichen Parteien haben in den Barrios nur eine schwache Basis und treffen zudem auf den Widerstand von chavistischen Gruppen, die immer wieder Wahlkämpfer der Opposition - wie umgekehrt im übrigen auch die Gegenseite in den Mittel- und Oberschichtsvierteln - mit allerlei sauberen und unsauberen Mitteln zu sabotieren versuchen. Wirklich verwunderlich ist hingegen, dass selbst in den wohlhabenden Appartmentsiedlungen im Süden und Osten der Hauptstadt von einer Kampagne der Opposition nicht viel zu sehen ist. Die Plaza Francia, die ein ganzes Jahr lang Schauplatz einer oppositionellen Protestbesetzung war, liegt verlassen da. In den bescheideneren Wohnstraßen von Chacao, deren Atmosphäre ein wenig an Südspanien erinnert, beherrschen Werbewimpel der Getränkekonzerne das Straßenbild. Und auch von der Geräuschkulisse des vergangenen Jahres - Autohupen im Rhythmus der Oppositionsparolen und abendliches Kochtopf-Schlagen - ist nichts geblieben.
Statt dessen beherrscht das rote "No" des Regierungslagers das Bild im Land. Nach ihrer Pleite bei den Unterschriftensammlungen im Vorfeld das Referendums haben die Regierungsparteien das Land mit ihrer Propaganda buchstäblich überschwemmt. Ob auf Bauernhäusern in den Dörfern der Kakaopflanzer, auf Fischerbooten, Bussen, Zeitungskiosken oder den Laternen der Hauptverkehrsstraßen - überall begegnen einem die roten Aufkleber und Wimpel der Chávez-Anhänger. Es ist, als wolle nur noch das Regierungslager jenes Referendum, das sie bis vor zwei Monaten erbittert zu verhindern versuchte.
"Entweder die Opposition ist völlig demoralisiert oder sie bereitet einen Wahlbetrug vor", glaubt Eduardo Daza von den genossenschaftlich orientierten Sozialen Netzwerken, der im Umfeld der Regierungspartei MVR internationale Solidaritätsarbeit macht. "Die Rechte hat die Möglichkeiten dazu. Sie beherrscht CanTV - das Telekommunikationsunternehmen." Wie viele andere Venezolaner - Oppositionelle ebenso wie Regierungsanhänger - hegt auch Daza Misstrauen gegenüber der Automatisierung des Wahlvorgangs. Um die mehrfache Abgabe von Stimmen zu verhindern, hat die Aufsichtsbehörde CNE mehrere Tausend Wahlmaschinen in den USA gekauft. Über ein satellitengestütztes System sollen die digitalisierten Fingerabdrücke der Wähler mit den im Zentralregister eingetragenen Abdrücken verglichen werden. Die Wahl erfolgt dann per Berührung einer Bildschirmfläche. Nach Schließung der Wahllokale werden die Ergebnisse über Funk in den zentralen Wahlcomputer überspielt. Während die Opposition sich vor allem gegen die Abgleichung der Fingerabdrücke wehrt, vermuten Regierungsanhänger einen Betrug bei der Übertragung der Daten. "Die Software ist einigermaßen transparent", so Daza, "aber die Übertragung nicht. Was auf dem Weg zum Computer geschieht, können wir nicht überprüfen." Ein Betrugsmanöver dürfte allerdings auch nicht ganz einfach werden. Zur Gegenkontrolle werden die Stimmen der WählerInnen auf einem Zettel ausgedruckt und in Urnen gesammelt. Bei Fälschungsverdacht können die Stimmzettel nachgezählt und mit dem digitalen Ergebnis verglichen werden.
Entscheidend für den Ausgang des Referendums dürfte ein Faktor werden, der von der sozial bessergestellten Opposition kaum wahrgenommen wird: Der Erfolg der sogenannten Misiones, der staatlichen Sozialprogramme für die ärmeren Bevölkerungsteile. Vor allem im Gesundheits-, Erziehungs- und Versorgungsbereich hat es seit dem vergangenen Jahr erstaunliche Fortschritte gegeben. Im Rahmen des Projekts Barrio Adentro sind in den Armenvierteln Tausende von Gesundheitsposten entstanden, die von kubanischen Ärzten betreut werden. Und mit den Alphabetisierungs- und Fortbildungs-Programmen Robinson und Ribas haben Hunderttausende begonnen, richtig schreiben zu lernen und Schulabschlüsse nachzuholen.
In La Vega, am Südwest-Rand von Caracas, wird der Erfolg der Programme besonders deutlich. In diesem etwa 150.000 Einwohner zählenden Barrio treffen die staatlichen Maßnahmen auf eine lange Tradition. Die Aktivisten im Viertel bezeichnen sich bereits seit den achtziger Jahren als "Ungehorsame", wie ihre italienischen Namensvetter, die nach den Protesten von Genua als "Disobbedienti" in Erscheinung traten. Vom Kamm aus, oberhalb von La Vega, stechen die Baumaßnahmen sofort ins Auge. Allein im oberen Teil des Barrios sind in den vergangenen neun Monaten sechs Gesundheitsposten und drei Mercal-Lebensmittelläden entstanden. Die zweistöckigen Gesundheitsposten ragen wie kleine, backsteinfarbene Wachtürme aus der Siedlung heraus. Die Mercal-Läden hingegen sind kleine Supermärkte, in denen staatlich subventionierte Lebensmittel zu Niedrigpreisen angeboten werden.
Ein Rundgang im Viertel macht deutlich, dass die Projekte sehr viel mehr sind als nur Staatsprogramme. Emiliana Rodríguez gehört zum Gesundheitskomitee des Straßenzugs Cuatro Esquinas. Sie zeigt uns den Neubau, der im Erdgeschoss aus einem Warteraum und einem Behandlungszimmer besteht. Im zweiten Stock wohnt der Arzt. Jeder Posten versorge rund 200 Familien, berichtet sie, etwas mehr als 1.000 Personen. "Und jede dieser Stationen wird von einem Gesundheitskomitee getragen", so Emiliana Rodríguez. "Das sind Freiwillige, die den Arzt unterstützen. Vor einiger Zeit ist das Dengue-Fieber im Viertel wieder ausgebrochen. Wir leisten deshalb Aufklärungsarbeit, damit alte Autoreifen entsorgt und die Stellen sauber gehalten werden, an denen sich Wasser sammeln könnte und Mücken vermehren würden."
Die staatlichen Sozialprogramme, die sich ohne den hohen Ölpreis kaum finanzieren ließen, werden vom Regierungslager durchaus auch wahltaktisch eingesetzt. Aber sie sind mehr als klassisch-populistische Wahlgeschenke. Die Chávez-Regierung versucht mit ihren Kampagnen auch die Selbstorganisierung der Bevölkerung zu fördern. Neben den Gesundheitskomitees existieren in La Vega sogenannte Consejos de Planificación Local, örtliche Planungsräte, die im Rahmen eines neuen kommunalen Mitverwaltungsgesetzes entstanden sind und mit denen eine Demokratisierung der Stadtplanung erreicht werden soll. Hinzu kommen die Comites de Tierra Urbana, Stadtteilkomitees, die den Grundbesitz in den Slums legalisieren sollen, Volksküchen, Alphabetisierungskomitees und zahlreiche Kooperativen. Insgesamt sprechen die Aktivisten von 7.000 Organisierten allein in La Vega.
Oberhalb des Gesundheitspostens von Cuatro Esquinas sind viele dieser Projekte in einem einzigen Gebäude untergebracht. Hier wird gelernt für den Schulabschluss, mit Fernsehern und Videos, die der Staat im Rahmen der Mision Ribas zur Verfügung stellt. Der Facilitador, so etwas wie ein Übungsleiter des Unterrichts, stammt aus der Nachbarschaft. Gleichzeitig kochen im Erdgeschoss mehrere Frauen ehrenamtlich für 140 Bedürftige - in der Mehrzahl Unterernährte, Alte und Kranke. Auch hier werden die Sachwerte, in diesem Fall die Lebensmittel, vom Staat geliefert, während die Nachbarschaftsorganisationen für die Arbeitskraft sorgen. Zusätzlich wurden neben dem Haus einige Beete angelegt und ein Hühnerstall gebaut. Mit kubanischer Unterstützung bemüht sich die Regierung um die Verbreitung städtischer Landwirtschaft zur Grundversorgung. Die kleine Hühnerfarm in diesem Teil von La Vega liegt allerdings auf Eis, weil sich die von der verantwortlichen Stelle gelieferten Küken als ungeeignet für die Zucht erwiesen haben. Auch das ist charakteristisch für die Lage in Venezuela: Von den in Angriff genommenen Projekten endet ein beträchtlicher Teil als Investitionsruine.
Ein weiteres Projekt findet sich schließlich einen Block von der Volksküche entfernt: das Mercal-Warenhaus, das zum Lebensmittelprogramm gehört und sichtbar macht, was man als wirtschaftspolitisches Profil der Regierung bezeichnen könnte. Das privatwirtschaftlich betriebene Unternehmen entstand aus einer Notsituation, als die Opposition mit Aussperrungen und Betriebsschließungen die Versorgung der Bevölkerung lahm legte. Um über alternative Vertriebskanäle zu verfügen, wurde mit Hilfe der Infrastruktur von Militärs und Stadtteilorganisationen das Mercal-Netz aufgebaut, das mittlerweile über zahlreiche eigene Läden verfügt. Auf diese Weise kann der Staat auf die Einkaufspolitik Einfluss nehmen - es wird vornehmlich bei den lateinamerikanischen Mercosur-Partnern Brasilien und Argentinien gekauft, mit denen man die Wirtschaftsintegration vertiefen will. Perspektivisch soll Mercal auch den einheimischen Kooperativen einen Absatzmarkt garantieren. Ein Projekt, das zwar nicht unbedingt den Kapitalismus in Frage stellt, aber doch die Macht der Oligopole und damit auch der Opposition einschränkt.
Trotz des sichtbaren Erfolgs derartiger Sozialprogramme dürfte das Referendum am 15. August dennoch knapper ausgehen, als es die Chávez-Anhänger erwarten. Das Regierungslager hat sich mit seinem triumphalistischen Gebahren dieses Jahr schon einmal blamiert, als es vorhersagte, die Opposition werde die notwendigen Unterschriften niemals zusammenbekommen, man selbst hingegen werde mehr als 30 Oppositionsabgeordnete bei einem Abwahlreferendum stürzen. Schließlich schaffte die Opposition die 20 Prozent-Hürde zwar knapp, aber dennoch sicher, während das Regierungslager nur gegen neun Abgeordnete die notwendigen Unterschriften sammeln konnte. Offensichtlich gehört es zur Wahlkampfstrategie beider Seiten, an der eigenen Stärke keine Zweifel aufkommen zu lassen.
Ein baskischer Freund, der die Wahlkampfniederlage der Sandinisten 1990 miterlebte und danach das zentralamerikanische Land verlassen musste, ist deshalb vorsichtig. "In Nicaragua haben damals auch alle nur darüber diskutiert, ob die Sandinisten die Zweidrittelmehrheit schaffen oder nicht. Man darf nicht unterschätzen, was die Opposition bereits mobilisiert hat: 2,5 Millionen Unterschriften sind kein Pappenstiel. Bei Wahlen sind das sehr viel mehr Stimmen. Von den Staatsangestellten zum Beispiel haben viele nicht unterzeichnet, weil sie Angst hatten, ihren Job zu verlieren. Und der Staat ist hier immer noch der größte Arbeitgeber."
Wenn Chávez - wie es zur Zeit aussieht - das Referendum dennoch gewinnen sollte, wird er das den Misiones zu verdanken haben. Darüber hinaus kann das Regierungslager nach sechs Quartalen der Rezession seit Ende 2003 endlich wieder auf positive Daten verweisen. Um fast 30 Prozent wuchs die Wirtschaft im ersten Quartal 2004 - damit sind die Blessuren der Krise zwar noch nicht verheilt, aber die Lage hat sich spürbar entspannt. Ob Venezuela längerfristig beweisen kann, dass eine Alternative zum Neoliberalismus auch im Rahmen des kapitalistischen Weltmarkts möglich ist, kann niemand ernsthaft vorhersagen. Doch die Chancen, das Experiment auch nach dem 15. August fortzuführen, sind in den vergangenen Monaten wieder deutlich gestiegen.
Das Referendum
Am 15. August findet in Venezuela das Abwahlreferendum gegen Präsident Chávez statt. Dabei muss die bürgerliche Opposition mindestens 3,7 Millionen Ja-Stimmen und gleichzeitig mehr Wähler als das Regierungslager mobilisieren. Insgesamt sind nach einer groß angelegten Registrierungskampagne fast 14 Millionen Menschen stimmberechtigt. Falls der Präsident abgewählt werden sollte, kommt es im September zu Neuwahlen. Ob Chávez wieder antreten könnte, ist ungeklärt. Die Opposition versucht dies um jeden Preis zu verhindern, denn Umfragen zufolge könnte der Präsident auch bei einer Abwahl alle in Frage kommenden bürgerlichen Kandidaten schlagen. Falls die Rechte tatsächlich wieder an die Macht käme, wäre es im Übrigen das letzte Abwahlreferendum Venezuelas gewesen. Die Opposition hat angekündigt, dieses Instrument plebiszitärer Demokratie wieder aus der Verfassung zu streichen.
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