"Dreimal umziehen ist wie einmal abgebrannt", sagt sie immer, wenn eine ihrer Töchter wieder mal Kisten packt, Möbel auseinanderschraubt und von Münster nach Stuttgart, Wittenberg, Berlin oder Hannover zieht. Sie sagt das; aber sie weiß es nicht. Sie ist niemals abgebrannt, niemals umgezogen und hat niemals neu angefangen.
In den sechziger Jahren begann sie, mit ihrem Mann die Scheune neben dem Elternhaus auszubauen. Das war kein Umzug und kein neuer Anfang, kein Sesshaftwerden, sondern ein Festsitzen.
Auf dem Land ging das immer so: Wenn ein Kind heiratete, wurde schon mal ein Haus in den Vorgarten gemauert, Ställe in Wohnräume verwandelt, auf Garagen noch eine Etage aufgesattelt. Baugenehmigungen waren nicht von Bebauungsplänen abhängig. Es gab keinen Mangel an Raum: Alles ist ausbaufähig, wenn nur ein Dach drauf ist.
Sie bekam eine halbe Scheune mit Keller. Die halbe Scheune bekam eine Dreizimmerwohnung ins Erdgeschoss, während in der anderen Hälfte noch die Schweine fett wurden. In den Siebzigern werkelten sie am ersten Stock herum, damit die drei Kinder je ein eigenes Zimmer haben konnten, dann bauten sie den Dachboden aus. Sie bewältigten alles in Eigenarbeit, ihr Mann und seine Brüder waren Handwerker, auch Nachbarn und Freunde halfen mit. Als sie damit fertig waren, waren es mehr Zimmer als sie erwartet hatten. Fast zu viele Zimmer, dachten sie. Und alle Zimmer - damals fühlte sie noch eine starke Energie - fegte und feudelte sie jeden Samstag Nachmittag, während Radio Bremen die Bundesliga-Fußballspiele übertrug. Sie tat das so konsequent, dass ihre Jüngste noch heute sagt, dass Fußball im Radio nach Meister Proper riecht.
Inzwischen mag sie kein Fußball mehr hören und wischt die Böden nur noch, wenn sie Besuch erwartet. Das Haus ist zu groß, und ein Fußballspiel ist nicht mehr lang genug, um einmal alle Böden zu wischen, während Werder Bremen den Ball über den Rasen kickt. Sie hat auch keinen Spaß mehr daran. Lieber ist sie im Garten beim Gemüse und den Hühnern. Im Haus ist es so still. Alle sind ausgeflogen, auch ihr Mann lebt nicht mehr. Wozu sauber machen? Es ist mühselig. Und überall steht etwas im Weg. Mit den Jahren ist das Haus immer voller geworden. Nimals mehr würde sie behaupten, dass sie zu viele Zimmer hätte. Zu viele Zimmer - das gibt es nicht. Schließlich braucht man Platz, um seine Möbel abzustellen. Denn zu den gebrauchten Möbeln, die das junge Paar in den ersten Monaten ihrer Ehe geschenkt bekommen hatte, waren bald neue Möbel gekommen, selbst gebaute und selbst gekaufte. Und dann, als sie endlich nicht mehr auf den Pfennig achten mussten und sie zaghaft begannen, ihren eigenen Einrichtungsstil zu finden, schafften sie nach und nach die nächste Generation von Möbeln an: solide Stücke aus massivem Holz. Als das edle neue Esszimmer eingerichtet war, schlossen sie die Tür und schonten es, weil es sich nicht so schnell abnutzen sollte. Doch auch die alten Möbel mussten irgendwo bleiben. Sie waren doch nicht schlecht, und in Schränken und Schubladen kann man so manches verstauen. Sie dachte: Vielleicht will später eins von den Kindern mal das eine oder andere Stück mitnehmen.
Doch die Kinder haben nichts mitgenommen: Sie haben da gelassen, sie haben abgestellt, sie haben zwischengelagert. Sie haben ihre Schulbücher, in Kisten verpackt, auf den Dachboden geschoben und nie wieder heruntergeholt und später noch Kartons mit Studienunterlagen daneben gestellt. Eine hat geheiratet, sich ein paar Jahre später wieder scheiden lassen und bis heute das Brautkleid nicht mitgenommen. Es hängt noch an dem Schrank, voll mit Abendkleidern und Kostümen, die an Familienfeiern aus über vierzig Jahren erinnern. Kommoden bergen in ihren Schubladen, sauber gebündelt, Weihnachts- und Geburtstagskarten, die Glückwünsche zu den Konfirmationen aller drei Kinder, Beileidsbekundungen und Urlaubsgrüße. Auf dem Dachboden liegen die Kinderbetten und warten darauf, für die Enkelkinder, die es nicht gibt, wieder zusammengesetzt zu werden. Längst vergessene Hundekörbe, Vogel- und Hamsterkäfige sammeln dort Staubschichten. Fahrradersatzteile türmen sich in der Werkstatt hinter der Garage. Der Sohn hat ein ganzes Auto bei der Mutter vergessen.
Wie an eine Sandbank hat es zu ihren eigenen Habseligkeiten Treibgut aus dem Leben ihrer Eltern und Kinder aufgespült. Und es ist fraglich, ob das Wort "Habseligkeiten" Sinn ergibt - oder ob das Haben bis zu einer bestimmten Menge selig macht und danach die Mutlosigkeit beginnt. Was soll werden aus dem großen Haus? Sie denkt daran, wegzugehen. Einfach fortgehen, ohne alles noch einmal anfassen zu müssen, nicht jede Erinnerung an die Zeit des Bauens, des Wachsens und Entstehens, an den Tod und das Verlassenwerden - das ist ihr Traum. Nicht dreimal umziehen, lieber einmal abbrennen. Und noch lieber gar nichts davon. Am liebsten einfach die Türen schließen. Aber was wäre dann?
Seit einigen Monaten sieht sie im Fernsehen regelmäßig Doku-Sendungen in denen ganze Wohnungen und Häuser entrümpelt werden. Es fasziniert sie. Dass andere Menschen alles aufheben, bis ihnen die Dinge überhaupt keinen Raum mehr lassen, nichtmal zum Atmen! Das erleichtert sie, denn so schlimm ist es in ihrem Haus ja nicht. Sie hat ja Platz. Die Gewalt, mit der im Fernsehen entrümpelt wird, erstaunt sie: Das kann man doch nicht machen. Einfach wegwerfen, so unbesehen, so ohne nachzudenken.
"Doch kann man", behauptet ihre Tochter. Statt im Fernsehen, Fremden beim Entrümpeln zuzusehen, sollte man im eigenen Haus anfangen, rät sie: Such´ jeden Monat ein Möbelstück aus, das überflüssig ist, räum´ es aus, bring es in die Garage und melde es zum Jahresende zum Sperrmüll an. So wird im Laufe des Jahres das Haus leer, und zu Weihnachten können wir die Garage aufräumen.
- Das geht nicht! Zwölf Stücke sind nicht über. "Und dein altes Zimmer ist ja auch unordentlich", gibt die Mutter, was sie als Vorwurf empfindet, an das "Kind" zurück. Aber die Tochter lässt sich nicht abschütteln. "Zwölf Stücke finden sich leicht. Da ist zum Beispiel dieser alte Blumenhocker, von dem die Farbe abblättert."
"Den hat Onkel Johann gemacht, der bleibt!" erfährt sie und kontert:
"Dann streich ihn neu und benutze ihn!"
"Jetzt nicht."
"Der einzelne Küchenunterschrank von Oma?"
"Kann ich im Hühnerstall brauchen."
"Warum ist er dann nicht im Hühnerstall?" fragt die Tochter und schlägt als nächstes die seit Jahrzehnten unbenutzte Kartoffellagerkiste zur Vernichtung vor.
"Die stört doch keinen", bekommt sie zur Antwort.
"Omas Waschmaschine?"
"Das ist ´ne Miele."
"Aber kaputt und von 1976. Da lohnt keine Reparatur."
"Bist du sicher?"
"Die kaputte Gefriertruhe?"
"Geht nicht, da sind die Einmachgläser drin."
"Du benutzt die Einmachgläser nicht mehr."
"Macht nichts, die Gefriertruhe kriegen wir sowieso die Kellertreppe nie wieder hoch, der Papa hat da doch die Wand gezogen, als die Truhe schon unten war."
"Der kaputte Kühlschrank in der Garage?"
"Der bleibt, da verstecken wir doch den Haustürschlüssel drin."
"Kannst du den nicht woanders verstecken?"
"Der Kühlschrank bleibt, da kann man Sachen drauf abstellen."
Es ist ein zähes Ringen, ein Schachern und Handeln, indem zunächst nur ein Schreibtischstuhl geopfert wird, dessen Polster zerschlissen ist und dem eine Rolle fehlt. Schließlich wird noch ein wackeliger Sperrholz-Couchtisch aufgegeben, dessen einzige Funktion seit etwa dreißig Jahren ist, einem Kaktus Platz zu bieten, genau mittig, sonst knickt eins der Tischbeine weg.
Die Mutter findet, die Tochter hat gut Reden. Sie fährt am Abend in die Stadt zurück, in eine kleine überschaubare Wohnung. Sie ist oft umgezogen, und jedes Mal musste sie sortieren - behalten, wegwerfen - sich für oder gegen Orte, Menschen und Dinge in ihrem Leben entscheiden.
Die Mutter hingegen sitzt fest, eingekeilt wie ihre kaputte Gefriertruhe, kann sie sich nicht mehr bewegen zwischen den vielen Dingen, die sich in den Zimmern angesammelten haben. Es sind alles Dinge, die eine Entscheidung von ihr fordern, jedes für sich: Bist du für oder gegen mich? Brauchst du mich noch, magst du mich noch?
Auch wenn die Mutter sich gegen die Tochter wehrt. Im Grunde will sie sich befreien - von all den Schichten von Holz, Stoff, Papier, dieser Masse von Material. Aber so einfach geht das nicht. Was heißt überflüssig? Es sind ja ihre Zimmer, ihre Dinge, ihr Leben, was die Tochter "Gerümpel" nennt. Das wie etwas Organisches gewachsen ist, und nun wuchert und längst ein eigenes Leben hat. Man muss es respektieren. Erst dann kann man es abtragen. Langsam. Schicht für Schicht. Die Tochter soll nach Hause fahren und ihre eigene, kleine Wohnung aufräumen, in der sie es leichter hat. Die Mutter braucht ihren eigenen Plan. Und sie hat schon eine Idee.
Sie will oben anfangen, auf dem Dachboden, und zuerst den Schrank voller Puzzlespiele ausräumen. Darin sind mindestens 50 große Puzzles verstaut, große Puzzles, kaum eins umfasst weniger als 1000 Teile. Sie will jedes Puzzle noch einmal aufbauen, um zu sehen, ob noch alle Teile vollständig sind.
Dann wird sie alles fein säuberlich wieder einpacken und Puzzle für Puzzle verschenken.
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