Völlegefühl

Sportplatz Alltag

Das Jahr ist in der dritten Woche, die Feiertage sind längst vorbei und noch immer ist es da: das Völlegefühl. Es will nicht weggehen. Vollgestopft mit Gans, mit Keksen, mit Häppchen. Mit Gelöbnissen, dass wir uns läutern und bessern werden. Weniger Fett, weniger Alkohol. Und voll, sehr voll und eng wird es im Fitnessstudio im neuen Jahr. Da begegnet es uns gleich wieder - das Völlegefühl. Januar ist der Monat, vor dem die Stammkundschaft meines Fitnessstudios sich fürchtet. Denn der Abbau von Stress will nicht so recht klappen, in diesen Tagen. Im Gegenteil. Im Januar sind an den Orten, die für Wellness und Fitness bestimmt sind, starke Nerven gefragt. Im Januar ist glücklich, wer zur Vorabendzeit ein Rudergerät, ein Spinning-Rad oder einen Crosstrainer erobert hat. Er wird die Maschine freiwillig nicht mehr hergeben. Da stecken Nasen ganz tief in Büchern und Zeitschriften, Blicke sind starr auf einen Fernseher gerichtet, mit Kopfhörern wird die Umwelt ausgestöpselt und dabei geradelt, was die Muskeln hergeben. Je voller und gedrängter die Lage, um so abgekapselter der Einzelne, gezwungen, sein kleines Sportplätzchen zu verteidigen und dabei nicht vor Langeweile umzukommen. Stundenlang auf dem Laufband, das ödet vor allem den Anfänger nach zehn Minuten schon an. Aber er muss durch. Er hat es sich ja vorgenommen. Ganz fest. Das sagt sein Gesichtsausdruck. Auch die hochpreisige Multifunktionskleidung namhafter Markenartikelhersteller sieht ganz so aus, als sei sie gerade erstanden worden, noch vom Weihnachtsgeld, um Buße abzustrampeln.

Bei Pilates und Power-Yoga hat man im Januar nur den Platz auf der eigenen Matte und keinen Quadratzentimeter mehr. Bloß nicht die Arme ausbreiten, schon hat man jemanden ins Gesicht geschlagen! Riskanter noch sind Step-Aerobic und artverwandte Trainingseinheiten, bei denen es auf Taktgefühl und Rhythmus ankommt und vor allem auf Koordination. Gerade unter den Neujahrsneulingen flutscht immer wieder jemand in eine Richtung davon, die keiner erwartet hätte. Und wenn der Prozentsatz der Menschen mit schlechter Rechts-Links-Orientierung ein gewisses Maß übersteigt, besteht die sportliche Herausforderung für die Übrigen mehr und mehr in geistesgegenwärtigen Ausweichmanövern. Das alles wäre noch zu verkraften, wäre da nicht das Gedränge vor den Schränken in den Umkleideräumen. Im Januar tummeln sich hier viele Freundinnenduos, die sich jetzt gegenseitig zum Sport motivieren wollen. Jetzt, und in Zukunft noch mehr. Ihre Gespräche sind selbst über den leistungsstärksten Föhn hinweg zu hören. Denn eigentlich treffen sich diese Freundinnen, um miteinander zu klönen, was sie sonst, und viel besser, bei einem leckeren Stück Kuchen im Café tun würden. "Weißt du", sagt eine Brünette zu einer Blonden, "der Leo und die Jana sind schon wieder auseinander. Das hätte ich auch nicht anderes erwartet, ehrlich gesagt." Die andere föhnt und nickt und versucht derweilen, einen über sie stürzenden Herren wieder aufzurichten.

Es bleibt, sich auf den Februar zu freuen. Im Februar können sich die Brünette und die Blonde wieder bei Cappuccino mit Sahne über Leo und Jana unterhalten, und sie werden genügend Raum und Ruhe dazu haben. Und wir werden bei der Step-Aerobic wieder mit mehr Arm- und Beinfreiheit von rechts nach links und von links nach rechts hüpfen - und uns dabei auf was Schönes freuen. Auf ein gutes Essen zum Beispiel. Denn im Februar ist es endlich weg, das Völlegefühl.

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