Leben ist gelebt, es gibt keinen zweiten Anlauf. Jedenfalls nicht für den Einzelnen. Man kann sich wünschen, einige Entscheidungen anders getroffen zu haben, helfen wird es wenig. Wie heißt es so schön? Man handelt nach bestem Wissen und Gewissen. Nur wenn einem nachgesagt werden kann, genau das tat einer nicht, ist sein Handeln zu kritisieren. Die Kunst zu leben und niemandem weh zu tun, gelingt den wenigsten, was den meisten verziehen wird. Wer allerdings in der DDR lebte und an einigermaßen exponierter Stelle agierte, dem verzeiht man nicht. Erschwerend wird in solchen Fällen das Wort vom "Gesinnungstäter" verwendet, der im "Dienst seiner Sache" gestanden habe.
Gerade noch zu seinem 90. Geburtstag, den Hermann Kant am 14. Juni in Neustrelitz feierte, wurde das Wort in vielen Medien ausgiebig gebraucht. Was aber ist an einem, der wie Kant seiner "Gesinnung" gefolgt ist, also tat, was Wissen und Gewissen ihm geraten haben, schlimmer als an einem, der Befehlen nachgab? Kant gehörte zu einer Generation, die, kaum den Kinderschuhen entwachsen, in einen Vernichtungskrieg gezogen wurde, einem Krieg, der Überleben und Schuld so eng verband, dass nur ein schmaler Pfad in die Zukunft zu führen schien. Kants wichtigster und wohl bester Roman Der Aufenthalt, 1977 erschienen, schildert den Prozess der Anerkennung individueller Schuld und den Versuch, einen neuen Weg zu finden, der Schuld abtragen kann.
Die DDR nicht in Frage gestellt
„Kämst Du noch einmal auf die Welt, schriebst du nur Bücher“, seufzte er in seiner Autobiografie Abspann von 1991. Der Chronist von DDR Geschichte und ihren großen Utopien, (Die Aula, 1965) konnte sein Leben so wenig wie andere in das des Literaten, dem der Platz in der Literaturgeschichte sicher ist, und das des Funktionärs teilen. Das Wörtchen "aber", das der Lehrer Riebenlamm der ABF-Schülerin Rose Paal in der Aula so positiv anrechnet, galt bei Kant nach dem Verschwinden derr DDR nicht als entlastend.
Er musste damit leben, dass ihm jene, denen in der DDR Unrecht geschah, nicht verzeihen wollten, und die, die sich daran labten, alle Vorurteile nachplapperten. Dabei war Kant mit seiner Literatur von seinen Lesern in der DDR immer auch als Kritiker empfunden wurden. Als einer, der aussprach, was selten laut gesagt wurde.
Seine Bücher strotzten häufig vor hintergründigem Humor, zweideutigen Begebenheiten, die allerdings – und das ist es, was ihm nicht verziehen wurde nach 1990 – den sozialistischen Versuch DDR nicht infrage stellten. Seine Werke vermittelten ein Gefühl für die Zeit, für die Probleme und die vielleicht etwas kuriose Art, wie Literatur in den DDR rezipiert und verarbeitet wurde. Man las bei ihm eine Art Bericht über die Lebenswirklichkeit und eine Methode, sie zu bewältigen. Nachdenklich, heiter, kurios und kritikwürdig war sie bei Kant. Aber so soll, so darf es in der DDR ja nicht gewesen sein.
Der Umgang mit dem Präsidenten des DDR-Schriftstellerverbandes, der Kant über viele Jahre war, blieb unter den ehemaligen Kollegen bis zum Schluss ambivalent. Die einen rechneten sein Streiten für den Berufsverband, der Altersversorgung regelte und Auflagen erstritt, ganz positiv. Die anderen fanden es keineswegs heiter, wie - nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann im November 1976 – mit einem Teil von ihnen umgesprungen wurde, auf welche unwürdige Art sie sich ausgeschlossen sahen.
Kant, der zwischen Geist und Macht vermitteln wollte, dem Druck aber nicht gerecht werden konnte, hat damals sicher einen Teil seines Renommees verspielt. Die Frage, ob es ein anderer besser gekonnt hätte, stellt sich nicht. Es hat keiner versucht oder wohl auch nicht versuchen.wollen. In anderen Bereichen des DDR-Kulturbetriebes fällt die Bilanz jedenfalls nicht anders aus. Der Sitz im Zentralkomitee sicherte den jeweiligen Präsidenten vielleicht einen anderen Gesprächszugang zur eigentlichen Macht. Machtbefugnis sicherte er nicht.
Auf der Suche nach sich selbst
Kant hat nach dem Ende der DDR in vielen Arbeiten – Erzählungen, Romanen und Essays – versucht, der neuen Wirklichkeit beizukommen, vor allem aber die Ursachen der Abwege zu suchen, in die der sozialistische Traum getaumelt war. In acht Büchern, die nach 1990 im Aufbau-Verlag erschienen, schwangen die Fragen um das Verhältnis von Verstrickung und Gestaltungswillen in einem Staat, der alles kontrollieren möchte (Kennung, 2010) mit.
Sein Altstalinist Mark Niebuhr in der Okarina von 2002 durchforstet sein Leben auf der Suche nach sich selbst. Nicht, dass er zu Erkenntnissen gekommen wäre, zum Nachdenken aber reicht es allemal. Mir ist das lieber als das vorschnelle „Asche aufs Haupt streuen“, das die Wendehälse aller Coleur so vehement anraten. Bei Hermann Kant musste man nicht damit rechnen.
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