Das bestimmende Gefühl dieses Buchs von Irene Ruttmann ist Angst. Die, sich zu lösen von dem Land, in dem sie lebt, aber nicht leben will, von der Mutter, die wenig Vereinnahmendes hat, aber Verbundenheit aufrecht erhalten möchte, von den Freunden, denen die Ich-Erzählerin nicht vertraut, die sie dennoch nicht verletzen will, selbst die Liebe zu Robert beginnt mit Angst. Diese Angst hat etwas Diffuses. Eigentlich passiert nichts, was sie begründen könnte, aber das mindert sie nicht, es verlagert sie nur: Die nächste angstbesetzte Vision folgt.
Die Geschichte aus der DDR der fünfziger Jahre wird bewusst auf einen knappen Zeitraum begrenzt und aus einer einzigen Perspektive erzählt: der Jennys, Studentin der Berliner Humboldt-Universität. Es gab unter den jungen Leuten von vornherein zwei Gruppen: diejenigen, die den neuen Staat als Chance sahen, trotz aller Einschränkungen und Bevormundungen zählte für sie der Zugang zu Bildung, die Ansätze von Gleichheit, das Aufbrechen der scheinbar fest gefügten hierarchischen Strukturen einer Gesellschaft; und denjenigen, die all das gegen die Einschränkung individueller Freiheiten aufrechneten und es als nicht ausreichend empfanden. Prozesse und Verfolgungen, die es gab, spielen da kaum eine Rolle, sie zur Kenntnis zu nehmen, setzte Veränderungswillen voraus. Jenny und ihren Leuten reichten Vorstellungen von Entwicklungen, ein auf dem Papier stehendes Programm, eine nicht reale, aber angenommene Zimmerdurchsuchung, sie erlebten jeden Mann und jede Frau von der anderen Gruppierung als Feind, auch wenn gar nichts passiert. Sie setzten den Impuls "Weggehen" dagegen. Nicht den: "Etwas tun, Aufstehen". Die von der anderen Hälfte den: "Wer nicht für uns ist, ist gegen uns". Der Friede zwischen beiden kann nur einer auf Zeit sein.
Das Buch lässt dieses wabernde Unbehagen, genährt von aufgeschnappten Sätzen, halbgegorenen Parteiprogrammen, Andeutungen der Presse beklemmend auferstehen, die Unfähigkeit, miteinander zu reden oder die Angst in Gegenaktion umzusetzen. Damals galt die Regel, dass halbe Abiturklassen das Land verließen, und noch einmal ein Drittel der Universitätsabsolventen. Zwar nicht unbedingt aus Angst, eher wegen besserer Perspektiven, besserem Geld, größeren individuellen Möglichkeiten. Aber die Angst war so etwas wie die vertretbare Krankheit hinter dem Symptom, einige waren wirklich krank, andere steckten sich an und wieder andere folgten, bis der Sog die Stärke eines Sturm"auges" annahm, dem die DDR schließlich die Mauer in den Weg stellte. Auch untauglich, wie sich 28 Jahre später herausstellte.
Das Buch beschreibt jene Teilgeneration, die addiert, was sich dem eigenen Anspruch ans Leben entgegenstellt: Parteibeschlüsse, jugendliche Genossen mit dummdreister Reglementierungswut, Wahlerfahrungen, Polizeikontrollen in den Berliner Bahnen... Dass sie diesen Staat, der sich demokratisch in den Namen schreibt ohne es sein zu wollen, verlassen werden, steht von Anfang an fest. Es geht der Autorin nicht um die Entwicklung hin zu diesem Punkt, sondern um das Loslösen vom Gewohnten, um das Porträt jener Fluchtwilligen. Das ist ohne Sentimentalität erzählt. "Gewissensbisse" - der einzige aus der Familie zu sein, der studiert; die Mutter zu enttäuschen, die Theatergruppe zu sprengen - stemmen sich noch ein Anstandsweilchen dagegen. Aber: "Wir spürten, wie jung wir sind und daß wir soviel anderes zu tun haben, als ständig auf Schleichpfaden durch das Gestrüpp einer aufgezwungenen Ideologie zu ziehen".
Dieses "andere" ist eine Karriere nach Leistung und eine Liebe ohne Beschränkungen, von der mit wenigen Sätzen sehr viel erzählt wird, ohne je derb oder direkt zu werden. Da ist nichts gefühliges, Alltagssituationen der frühen Nachkriegszeit werden poetisch für zwei Liebende interpretiert. Eine Beziehung, die endlich nicht mehr zwischen einem Ehepaar mit Kind von der ungeliebten Generationshälfte - mürrisch, verbissen, rigoros ichbezogen und offenbar auch noch vom Ministerium für Staatssicherheit oder dem sympathischen achtzigjährigen Hauptmieter Kuhnke, der nicht stören will aber stört - verkümmern soll.
Es wäre allerdings nicht das Buch, das es ist, wenn es sich mit flott geschriebenen Betrachtungen begnügte. Schließlich spielt es unter Studenten der Germanistik und Theaterwissenschaften. Jenny entdeckt den Briefband einer Marquise aus dem 17. Jahrhunderts und darin einen Mutter-Tochter-Konflikt, eingebettet in die Auseinandersetzungen der Zeit, der ihr das Ewige und damit Tröstliche der eigenen Situation zu beweisen scheint. Dazu Anspielungen auf Buch- und Theaterszenen (von Goethe bis Brecht), Stadt- und Naturbeschreibungen, die das merkwürdig Schwüle im Berlin der fünfziger Jahre aufstehen lassen, jenen Zwitterzustand, in dem Abschottung bei offenen Grenzen von beiden Seiten zur Normalität gehörte, Berlin und Kalter Kriegs fast so etwas wie Synonyme waren, das Theater legendäre Inszenierungen bot und der große Knall schon programmiert schien. Wer Das Ultimatum" nicht als literarisch verbrämtes Geschichtsbuch, sondern als Roman, das er ist, liest, wird interessante Figuren, stimmende Zeitbezüge, psychologisch genaue Beobachtungen finden. Freilich auch - und das Buch benennt diesen Mangel - die Unfähigkeit dieser Generation, miteinander zu kommunizieren. "Niemand wird einmal sagen können, wir haben uns die Köpfe heißgeredet und waren offen und voller Pläne und voller Hoffnung und gutem Willen!"
Irene Ruttmann: Das Ultimatum. Roman, Verlag C.H.Beck, München 2001, 221 S., 38.- DM
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