Der normale Bürger kann es sich denken: Wohlbefinden und Zufriedenheit der Deutschen am Starnberger See sind um ein Vielfaches größer, als das der Bewohner eines anhaltinischen Städtchens mit beinahe dreißig Prozent Arbeitslosigkeit. Die Feststellung entstammt einer der umfassendsten Befragungen des renommierten McKinsey und ist unter dem Titel "Perspektive Deutschland" veröffentlicht. In einer Skala von Null bis Hundert erfasst sie Bewertungen des eigenen Lebens. Und die klaffen zwischen den verschiedenen Landstrichen gleich um 60 Prozent auseinander. Unterschiede, die dann doch überraschen. Weniger überraschend: Die Menschen im Osten nehmen diese Republik weit kritischer wahr als die in den westlichen Bundesländern. Es gibt Leute, wie den Altkanzler der SPD Schmidt, die dahinter die beklagte östliche Jammerhaltung vermuten, tatsächlich aber lässt sich Hoffnung nicht über viele Jahre hinweg aufrecht erhalten. Sie stirbt mit der Erfahrung. Und die hat einen konstant hohen Prozentsatz der ostdeutschen Bevölkerung schmerzhaft wahrnehmen lassen, wer ohne Arbeit ist, verliert nicht nur Geld, er verliert Lebensmut, Zuversicht, die Achtung vor sich selbst und vor allem den Glauben an die Zukunft. Und darüber hinaus wird er von den westlichen Brüdern als Schmarotzer geschmäht. Er hatte einmal gelernt: Kapitalismus ist ein rigides System, das Menschen nach den Maßstäben der Verwertbarkeit misst. Nach diesen Maßstäben ist einer ohne Arbeit ein Nichts. Und so fühlt er sich. Dass selbst in ostdeutschen Musterenklaven, jenen Gegenden also, die der Kanzler jüngst bereiste, um seine Politik und den Aufbau Ost bejubeln zu lassen, die Zufriedenheitszahlen im wesentlichen unterhalb von 50 Prozent bleiben, lässt auf ein grundsätzliches Problem schließen. Das Vertrauen in die bundesdeutsche Demokratie ist gesunken. Man erwartet keine Veränderung der eigenen Lage mehr, weder von der Politik, noch von Wahlen, bei denen schon im Vorfeld von den meisten Parteien Alternativlosigkeit zum gegenwärtigen neoliberalen Generalkurs verkündet wird. Dass die Wirtschaft ihren guten Willen betont, indes nicht müde wird, erpresserisch mit Arbeitsplatzverlagerung zu drohen, hebt das Lebensgefühl nicht. Die Lethargie nimmt zu, denn ein Ausweg, der mobilisieren könnte, ist nicht in Sicht. Die gebetsmühlenartige Wiederholung des Satzes "Diese Politik ist alternativlos" hat gewirkt. Auch wenn die Feststellung, wie der SPD-Bundestagsabgeordnete Hermann Scheer auf einer "Kulturkonferenz" von attac, Helle Panke und PDS sagte, "eine Lüge" ist.
Die Zahlen der Umfrage verweisen darauf, dass der Prozess der Umverteilung von unten nach oben nicht nur zwischen Ost und West zu gravierenden Unterschieden geführt hat, auch Nord und Süd unterscheiden sich um circa dreißig Prozent. Während in einigen Bereichen Bayerns und Baden-Württembergs mehr als 80 Prozent Zufriedenheit erreicht werden, sind es in Gelsenkirchen-Bottrop nur knapp über 50 (im Raum Halberstadt liegen sie bei 21). Die Hälfte der Bevölkerung dieses Landes hält also die eigene Lage für instabil und befürchtet, dass sich die allgemeinen Lebensbedingungen noch weiter verschlechtern. Deutschland ist nicht mehr eine reiche Republik, es ist eine Republik für Reiche, in der sich das Lebensgefühl der Ärmeren zunehmend in den negativen Bereich verschiebt.
Angst vor dem Verlust der Arbeit und den gravierenden Folgen bestimmt nicht mehr "nur" das Verhalten vieler Ostdeutscher, sie wird zunehmend auch im Westen empfunden. Ein hoher Prozentsatz der Arbeitenden würde deshalb eine Verlängerung der Arbeitszeiten hinnehmen, wenn nur die Erwerbsquelle nicht gänzlich versiegt. Einkommensverluste werden nicht nur geschluckt, sie werden sogar angeboten. Im östlichen Bayern haben die Beschäftigten der Optischen Werke 20 Prozent Lohnverzicht angeboten, ihr Betrieb verschwand dennoch Richtung Bratislava. Ihnen blieb hilfloser Protest an der Grenze zur Slowakei.
Die Angst, aus dem Erwerbsprozess raus zu fallen, führt zum Verzicht auf jede Art von Eskapaden. Und als Eskapade gilt auch der Wunsch nach Kindern. Anders als allgemein angenommen, weist die Umfrage aus, dass sich viele Deutsche ihren Kinderwunsch gern erfüllen würden. Sie fürchten allerdings den sozialen Abstieg. Innenminister Schily scheint solchem Umfrageergebnis nicht zu trauen und macht ein verändertes Wertesystem für die geringe Zahl von Kindern verantwortlich. Dagegen muss man gar nicht polemisieren. Nur: dieses Wertesystem ist nicht gewachsen, schon gar nicht einem hemmungslosen Spieltrieb geschuldet, sondern erzwungen.
Die Vorstellung, frei entscheiden zu können, wann und in welchem Bereich die eigenen Fähigkeiten am besten entfaltet werden könnten, zurück zu kehren in den Arbeitsprozess, wenn der Entwicklungsstand der Kinder es zulässt, ist so illusionär, dass darauf nicht einmal mehr die hoch qualifizierte Arbeitskräfte hoffen dürfen. Deshalb gewinnt die Forderung nach angemessener Kinderbetreuung auch der Jüngsten an Akzeptanz.
Ein von der Berliner Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner (PDS) in Auftrag gegebener Sozialatlas kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Detailliert und auf Bezirke, Kieze, Straßen bezogen, beschreibt er einen Prozess der Verarmung, der im allgemeinen hinter den frisch gestrichenen Fassaden verschwindet. Gegenüber einer vergleichbaren Untersuchung von 1995 haben sich einige, damals noch gut strukturierte Gebiete, in Viertel mit unterdurchschnittlicher Ausstattung entwickelt. Das Einkommensniveau solcher Gebiete sank, der Anteil von Arbeitslosen wuchs. Die Folgen sind gravierend. Ein zunächst breit gefächertes soziales Spektrum, vor allem in den Ostbezirken, ist in zunehmend entmischte Viertel zerfallen. Kriminalität blüht, die Lebenserwartung ist um bis fünf Jahre unter den allgemeinen Durchschnitt gefallen.
Im April 2002 waren mehr als eine halbe Million Menschen in Berlin von Armut betroffen. Davon 28,1 Prozent im Bezirk Kreuzberg. Über die Hälfte der Haushalte mit mehr als drei Kindern lebt unter der Armutsgrenze. Ebenso wie 36 Prozent der Haushalte, in denen überwiegend Ausländer leben, für Berliner ohne Berufsabschluss liegt die entsprechende Quote bei 42 Prozent. Die Tendenz ist steigend. Das heißt, diesen Familien stehen nur 50 Prozent dessen zur Verfügung, was für eine bedarfsgerechte Versorgung nötig wäre. Einschulungsuntersuchungen zeigen, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen sozialer Herkunft und Lernverhalten, Gesundheit, sogar der Zahngesundheit. Welche Chancen haben Kinder aus unterprivilegierten Familien, wenn Gesundheit, Wohnraum, Lernmittel und Kinderbetreuung zunehmend vom Geld der Eltern abhängen? Selbst bei sorgfältigster Planung ist Bildung in diesen Fällen auch eine Frage der Möglichkeiten. Wo sollen angemessen vorgebildete Schulabgänger herkommen, wenn ein Teil des ohnehin nicht gerade zahlreichen Nachwuchses zwar verbal gefördert, materiell aber in jeder Beziehung vernachlässigt wird? Kinder stellen in dieser Gesellschaft nicht nur das größte Armutsrisiko für ihre Eltern dar, sie laufen auch Gefahr, von der Gesellschaft nicht angenommen zu werden. Schon heute gelingt fast fünf Prozent der Schulabgänger der Einstieg in die Berufswelt nicht. Deren Lebensradius bleibt dauerhaft reduziert. Selbstverständlich will die Politik gegen steuern, bislang aber sind die spezifischen Angebote eher reduziert als aufgestockt worden.
Das häufig propagierte "Leben wie in Amerika" hat sich in unvorhergesehener Weise erfüllt: Zunehmend adipöse (fettsüchtige) Kinder und Jugendliche - ein neuer Indikator für jene Form von Armut, wie sie in den reichen Ländern als Folge falscher Ernährung und einer spezifischen Form von Vernachlässigung durch Unwissen üblich ist. Sozialhilfe, die nur den nötigsten Bedarf deckt, Minijobs, von denen Familien nur noch dann leben können, wenn sie mehrere ihr eigen nennen. Eine Abnahme freier Zeit bei denen, die arbeiten, Langeweile und ein Gefühl des Überflüssigseins bei einer zunehmend hohen Zahl von Dauerarbeitslosen, denen ihr Status anzusehen ist, wenn sie zu reden beginnen. Schöne neue Welt.
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