Der Adler und seine Frösche

Keine falsche Rücksicht Der Bundesverband der Deutschen Industrie will den Aufbruch jetzt - über eine denkwürdige Tagung in Berlin

"Was würde passieren, wenn Frösche die Trockenlegung des Sumpfes übernehmen sollten? - Natürlich gar nichts." Ein beliebter Satz in der Politik, mit dem sich die Macher von den "Fröschen" distanzieren. Jenen glitschigen, unberechenbaren Wesen, die sich quakend in die Mitte ihres Wässerchens stellen und sich einfach weigern, etwas anderes zu tun, als zu leben. Warum sollten sie auch trocken legen, was sie zum Überleben brauchen?

Wer den Satz zu Ende denkt, merkt schnell, er gereicht Politikern nicht unbedingt zur Ehre: Schließlich beschreibt er, dass es "Macher" gibt, die fürs eigene Überleben das der Frösche rücksichtslos gefährden. Natürlich fiel dieser Satz auch in der Debatte des BDI-Reformkongresses "Freiheit wagen - Fesseln sprengen - Für ein attraktives Deutschland", gedacht als Beschreibung eines aufzubrechenden Zustands, in dem diese Republik dümpelt. Er beschreibt aber auch, mit welcher Rücksichtslosigkeit vorgegangen werden soll, vorgegangen werden muss, wie zu hören war. Und man trug Fakten zusammen, die so oder ähnlich seit einigen Jahren durch die Nachrichten toben: Bei Erhalt der sozialen Systeme in der gegenwärtigen Form überstiegen die Kosten in absehbarer Zeit ein Viertel der Einkommen. Also wurde gefordert, dass der Sozialstaat vom Arbeitsprozess abzukoppeln sei. Die neue Vision: Jeder versichert sich nach eigenem Gustus. Und zwar in jeder Beziehung: Alterssicherung und Krankheitskosten inbegriffen. Man hatte dafür den schönen Satz gefunden: Solidarität durch mehr Eigenverantwortung. Die Debatte empfahl, alle sozialen Sicherungssysteme auf Sozialhilfeniveau abzuschmelzen, die Rente eingeschlossen. Nach diesem Konzept gilt: Jeder muss danach trachten, nicht in Not zu geraten. Passiert das doch, sind Versicherungen bestenfalls eine Reißleine, die den Fallschirm öffnet, um unverletzt zu landen. Auf dem Boden angekommen, ist der "Gefallene" wieder selbst zuständig. Zu diesem Szenario gehören inzwischen auch Ausführungsbestimmungen. Schadensrabatte wie bei der KFZ-Versicherung sind angedacht. Oder: Wer sich Risiken aussetzt, soll stärker zur Kasse gebeten werden. Was aber gehört zum Risiko: Auto fahren? Klettern? Bunjee-Springen? Arbeiten gehen?

Was durch die Rürup-Kommission und die "Agenda 2010" in die Debatte geworfen wurde, führt längst ein Eigenleben und wird nun in verschärfter Form fortgesetzt. Denn vieles geht nicht weit genug. Vor allem aber, es geht nicht schnell genug. CDU-Vorsitzende Angela Merkel, eigens von der CDU-Vorstandssitzung zum BDI geeilt, will noch einmal 20 Prozent von der Sozialhilfe kürzen, wenn ein Betroffener eine Arbeit nicht annimmt.

Den Nachweis neu entstandener Arbeitsplätze nach Vorleistungen in der Vergangenheit - die einzig wirksame Entlastung der Systeme - erbrachte niemand. Von eventuell möglichen Investitionen, nicht nach Amerika abwandernden Aufträgen wurde gesprochen, wenn sich ein liberalerer Umgang zwischen Gewerkschaftsvertretern und Betriebsleitung durchsetzen könnte. Da der aber in den meisten Fällen längst möglich ist, Stoßarbeiten durchaus abgefedert werden können, forderte man dann doch gleich die Begrenzung der Macht der Gewerkschaften. Begründung: Sie halten auf. Wenn überhaupt eine Arbeitnehmervertretung, dann höchstens durch Betriebsräte. Bundesfamilienministerin Renate Schmidt wies darauf hin, dass auf Drängen der Unternehmen der bis vor einigen Jahren garantierte Kündigungsschutz für ältere Arbeitnehmer gefallen sei. Im Vorfeld wurde das als entscheidendes Hemmnis für die Einstellung über Fünfzigjähriger genannt. Tatsächlich sind aber auch danach kaum ältere Menschen beschäftigt worden.

Unverdrossen aber wird weiter gefordert: Arbeit bis 67. Während der Debatte gab es überhaupt nur einen, der sich fragte, woher soll Arbeit für diese Gruppe kommen? Carl-Christian von Weizsäcker will immerhin altersgemäße lukrative Tätigkeitsmodelle für Senioren entwickeln. Wie sie aussehen könnten, weiß allerdings auch er bislang nicht. Es entstand ein ganz anderer Verdacht: Da höchstens zehn, fünfzehn Prozent der über 60-Jährigen Arbeit haben werden, senkt sich das Rentenniveau auch schon für jene Gruppe, die keine Chance hatte, privat vorzusorgen. Eine nicht unerhebliche Entlastung.

Durch die Debatte zog sich ein Satz, der mit Blick auf die hohe Zahl insolventer Betriebe und kaum noch zahlungsfähiger Städte und Gemeinden staunen lässt: Geld sei nicht das Problem, davon sei genug da. Die Schere - auch das wurde gesagt - zwischen Arm und Reich habe sich in Deutschland erheblich auseinander bewegt. Aber die tatsächlichen Renditen erfüllten bislang nicht die Erwartungen, die potentielle Anleger nun mal hätten. Deshalb müsse in der Bundesrepublik weiter aufgeräumt werden. Identifikation mit dem eigenen Betrieb, Mitbestimmung, Arbeiter als Partner im Produktionsprozess - all das verlangsame Entscheidungen und sei viel zu teuer. Menschen kosten. Zwischendurch kam zwar auch auf diesem Kongress der warnende Hinweis: Autos kaufen keine Autos, und Häuser kaufen keine Häuser. Mehr Gehör fand allerdings die historische Begründung der jetzt fälligen Kapitaloffensive. Bis zum Ende der DDR habe man Rücksicht nehmen müssen. Wirtschaft und soziale Sicherungssysteme mussten denen in kommunistischen Ländern überlegen sein. Das soll nun bereinigt werden. Der Rheinische Kapitalismus hat seine Schuldigkeit getan.

Der BDI hatte alles aufgeboten, was er aufbieten konnte, selbst durch die Halle fliegende Adler als Sinnbild wieder erstandener Marktführerschaft, die brav den Arm des Präsidenten Rogowski fanden. Einer aber widerstand den Lockrufen. Der Fachmann musste ihn trickreich von der Decke holen. Danach dann eine Kundgebung der Unternehmer, die den Aufbruch wirkungsvoll symbolisieren sollte. Kleine Pannen gab es auch hier. Im nicht zu unterdrückenden Pfeifkonzert hatten es all die Herren im dunklen Anzug schwer, ihresgleichen zu erreichen. Da waren sie wieder, die "quakenden Frösche", die ihr Biotop, die Straße, einfach nicht verlassen wollten.

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