Die Angst, das Brot, der Umsturz

Veröffentlichungen zum 17. Juni Fakten - die Frage danach, ob politischer Streik bis heute demokratische Tradition sein kann, bleibt ausgespart

Das Brot, es war grotesk, war billiger als das Korn, aus dem es gemacht war. Hühner fraßen Brot. Der Versuch, dieses merkwürdige Preisgefüge durch Verteuerung des Brots zu korrigieren, wurde in Windeseile zurück gezogen. Die Angst vor Protesten war zu groß.

Wer in der DDR nach den Wirkungen des 17. Juni fragt, dem müssen viele solcher Beispiele genannt werden. Die Angst der Partei- und Staatsführung, ein zweites Mal an den Rand des Machtverlustes zu geraten, war so groß, dass zwar von faschistischem Putsch, Konterrevolution und durch den Westen inszenierter antikommunistischer Revolte die Rede war, aber alles vermieden wurde, was in der Folgezeit spürbar die Lebensverhältnisse verschlechtert hätte. Wenigstens eins sollte verlässlich garantiert sein: Grundbedürfnisse, zu denen Arbeit, Wohnen und wichtige Nahrungsmittel - also auch Brot - gehörten, mussten zu immer den gleichen, kalkulierbaren Bedingungen befriedigt werden können. Ein Dogma, das im Laufe von immerhin vier Jahrzehnten manchmal kuriose Blüten trieb, vor allem aber Stagnation programmierte.

Das belegt zweierlei: Erstens, die DDR-Spitze wusste genau, ihr Staat stand auf unsicheren Füßen, die Versprechen einer rosigen Zukunft würden irgendwann eingefordert werden. Zweitens: Die Begrenzung persönlicher Freiheitsrechte musste mit der Berechenbarkeit des Alltags konterkariert werden. Ein Rezept, das für jene Generation, die 1953 und in den darauf folgenden Jahren 56/57 den Aufstand wagte, im wesentlichen wirkte.

50 Jahre später wird nun mit den Mitteln von Publizistik, Kunst und Wissenschaft an der Bewältigung dieses Teils der Geschichte gearbeitet, um ihn aus dem Dämmerzustand östlich wie westlich der Elbe heraus zu holen. Allerdings bleibt das Vorhaben, trotz der Fülle der öffentlichen Äußerungen, auf die unmittelbaren Fakten des Aufstands im Gebiet der ehemaligen DDR begrenzt. Das wäre logisch, wenn die DDR in einem Vakuum existiert hätte. Beide deutsche Staaten waren 1953 aber Besatzungsgebiete mit eingeschränkter Selbstständigkeit. Und - eigentlich seltsam - eine Beziehung in den bundesrepublikanischen Raum hinein bleibt konsequent ausgeklammert. So als reiche die Zuordnung DDR, um Streik als politisches Instrument zu erklären und gleichzeitig auf einen Rahmen außerhalb gegenwärtiger politisch brisanter Vorgänge zu beschränken. (Streik hat - nach den Gesetzen der Bundesrepublik - eine rein ökonomische Funktion. Als politisches Instrument, beispielsweise im Rahmen des Anti-Globalisierungskampfes, ist er kaum weniger geächtet als damals.) Diese Sicht ist bei reinen Quellensichtungen vorgegeben, aber auch alle offeneren Formen vermeiden, Streik als Kampfinstrument arbeitender oder auch nur betroffener Bevölkerung in historisch übergreifenden Zeiträumen in Betracht zu ziehen.

Wer sich der schwer überschaubaren Flut von Veröffentlichungen zum Thema 17. Juni mit Wissensdurst stellt, wird also eine Unmenge an Protokollen, Äußerungen, Berichten, Kommentaren und Fakten in sich einsaugen; Erkenntnisse, wie denn heute Meinung von unten erfolgreich in Politik einbezogen werden kann, erhält er nicht. Er erfährt allerdings, dass das Streikrecht in der DDR endete, lange bevor es um politische Forderungen ging. Schon die Abwehr ungerechtfertigter Normerhöhungen wurde als Attacke gegen die Regierungspolitik gewertet, schließlich - so jedenfalls die offizielle DDR-Sicht - streike man in einem Staat für Arbeiter und Bauern gegen sich selbst. Und das könne keinen Sinn ergeben.

Die in der DDR bevorzugte Lesart vom faschistischen Putsch, der im wesentlichen von Westberlin und dem RIAS gesteuert war, führte dazu, dass Ursachen (über die Zurücknahme von einigen "Überspitzungen" wie die Normerhöhungen hinaus), Motive der Streikenden, tatsächliche Abläufe und realer Umfang des Protestes öffentlich unbeleuchtet blieben und so gut wie nichts über Menschen, die beteiligt waren, an die Öffentlichkeit drang. Aber auch die Bundesrepublik hatte - über die Installierung des Feiertags hinaus - keine Eile, ihre eigene Rolle beim Überhören der Forderungen nach Einheit, die - und das ist unbestritten - zumindest hätte verhandelt werden können, aufzuarbeiten. Das eröffnete den Publizisten von heute für das Gebiet der DDR ein breites Feld. Internationale Vorgänge, die Interessenlage des Westens, findet der Leser eher in einem noch nicht übersetzten Buch des Washingtoner Historikers F. Ostermann Uprising in East germany, 1953. Und in einem kleinen Band von Hans Bentzin Was geschah am 17. Juni.

Egon Bahr, damals Chefredakteur des RIAS, streitet in seinen Erinnerungen vehement dagegen, dass der RIAS ein Interesse an instabilen Verhältnissen in der DDR gehabt haben könnte. Im Gegenteil, man habe von amerikanischer Seite Rüffel einstecken müssen, weil eine Konfrontation mit den Sowjets acht Jahre nach Ende des II. Weltkriegs und in unmittelbarer Nähe zum Korea-Krieg für Westberlin eine Gefahr bedeutet hätte. Dem steht die Tatsache gegenüber, dass DDR-weit Sendungen abgehört und als Quelle für Termine und den Wortlaut der Forderungen genutzt wurden. Allein das kommentierende Aufgreifen der Pläne streikender Arbeiter hatte Steuerfunktion, gleichgültig, ob gewollt oder ungewollt. Planungen für einen Tag X leugnet niemand. Allerdings ging man in der Bundesrepublik von einem in der Zukunft liegenden Tag aus, an dem die DDR implodieren würde und eine Konfrontation mit der Besatzungsmacht ausgeschlossen werden konnte. Wie 1989 geschehen.

Die meisten Veröffentlichungen führen exemplarisch vor, wie, wann und mit welchen Forderungen die Arbeiter von Industriebereichen oder Betrieben sich dem Aufstand anschlossen, welche Schichten beteiligt waren und auf welche Art der Protest schließlich beendet wurde. Nicht immer von sowjetischen Panzern, es gab Beispiele, in denen Forderungen akzeptiert und so der Ausstand vermieden wurde. Panzer und erste Verhaftungen aktivierten allerdings die Angst vor einem neuen Krieg. Volker Koop, Journalist und Mitarbeiter des CDU-Politkers Rupert Scholz, trägt in seinem Buch Der 17. Juni 1953 - Legende und Wirklichkeit eine Unmenge Zahlen und Fakten zusammen, die belegen: Das bisherige Bild in Ost und West muss korrigiert werden. Er sieht die Erhebung als Volksaufstand, seine angeführten Zahlen von Verhaftungen aber belegen, dass die Version von ausschließlich ostdeutsch geprägten Aktionen auch nicht ganz stimmen kann, denn ein Drittel der in Berlin Verhafteten kam aus Westberlin. Seine Recherchen haben darüber hinaus ergeben, dass standrechtliche Erschießungen sowjetischer Soldaten wegen angeblicher Weigerung, gegen deutsche Arbeiter mit Waffengewalt vorzugehen, nicht bestätigt werden können. Das jährlich mit Kränzen bedachte Denkmal stünde also für Nichts, schreibt er. Und auch die immer wieder angemerkten Massaker lassen sich nicht bestätigen. Die Sowjets hätten eben nicht einfach in die Menge gefeuert. Anders als andere Autoren kommt er zu dem Ergebnis, dass der Aufstand flächendeckend das gesamte Gebiet der DDR erfasste.

Ähnliche Ergebnisse publiziert Hubertus Knabe in seinem Band 17. Juni - ein deutscher Aufstand. Auch er favorisiert die Vorstellung vom flächendeckenden Aufstand. Nur: Er belegt weit weniger, warum er das tut. Der Bezirk Suhl, in dem nicht einmal der Ausnahmezustand verhängt wurde, ist bei ihm zwar auch "Schlusslicht", aber eben der Aufständischen. Dafür versucht er, die Ereignisse aus der Innensicht der SED mit einem Machtkampf im Politbüro zu erklären. Er geht den verschiedenen Auseinandersetzungen zwischen der Gruppe Ulbricht und der um Herrnstadt (damals Chefradakteur des ND) und Zaisser (Minister für Staatssicherheit) nach und kommt zu dem Ergebnis, dass die innerparteiliche Opposition "nicht konsequent genug" agierte. Nach seinem Bericht habe Ulbricht die Lage bewusst verschärft, um Unverzichtbarkeit gegenüber Moskau zu demonstrieren, wo Anfang Juni die Absetzung des bisherigen Gefolgsmanns beschlossen worden war. Knabe schränkt allerdings selbst ein, dass sich dafür keine Belege finden lassen. Ein Polit-Thriller, der ein bisschen auf die Verkaufszahlen schielt. Sowohl Koop wie Knabe gehen in ihren Darstellungen von einer weitgehenden Autonomie der DDR aus. Bemerkenswert deshalb, weil die offizielle Politik der Bundesrepublik immer vom Satelliten Moskaus sprach. Hingegen argumentieren einige der Autoren aus der DDR mit weitgehend von der Sowjetunion verantworteten Verschlechterungen der Verhältnisse, Hans Bentzin zum Beispiel, der Berija persönlich dafür verantwortlich macht. Die Verkehrung der Argumentationen beider Lager von vor 1989 lässt sich mit den nicht bewältigten Integrations- und ökonomischen Gleichstellungsprozessen im Einheitsprozess wohl eher erklären als mit den Tatsachen von 1953.

Andere Darstellungen, Burghard Cieslas Freiheit wollen wir! zum Beispiel, bleiben streng dokumentarisch. Seine Arbeit, im Auftrag des brandenburgischen Landtags und anderer Institutionen entstanden, vermeidet Interpretation und begrenzt die Untersuchungen auf jene Bezirke, die heute zum Land Brandenburg gehören. Dicht und genau werden die Aktionen in den verschiedenen Städten und Gemeinden verzeichnet. Auch er favorisiert den Begriff Volksaufstand, im Gegensatz zu seinem Kollegen Hans Dieter Scheermann, der in seinem Quellenband zu der Einschätzung kommt, dass es ein Massenstreik war, der mit ökonomischen Forderungen von mehreren zehntausend Arbeitern, Ingenieuren, Bauern, Technikern begann und dann Forderungen nach Sturz einer unfähigen Regierung, Auflösung der Volkspolizei, Bestrafung der Schuldigen für eine falsche Politik stellte und in einigen Fällen sogar zur Lynchjustiz überging. "Faschistische" Ziele konnte indes niemand ausmachen, nicht einmal der Untersuchungsbericht des MfS, der zum Zwecke des Nachweises faschistischer Unterwanderung verfertigt worden war.

Es gibt nur wenige Arbeiten, die sich schichtspezifisch mit dem 17. Juni beschäftigen. Eine davon stammt von Siegfried Prokop, der die Intelligenz aus dem Geruch ihrer Ergebenheit gegenüber der SED heraus zu holen versucht. Tatsächlich gelingt es ihm, eine ganze Reihe von Fakten aufzulisten, die kritisches Bewusstsein und an die Regierung weiter geleitete Überlegungen belegen und den Kulturbund in einer ausgeprägt politischen Funktion zeigen. Das ist in seinen Einzelheiten spannend und fügt dem bisherigen Bild einige verändernde Blickwinkel hinzu. Eingriffe in die Autonomie wissenschaftlicher oder künstlerischer Arbeit werden demnach von Anfang an kritisch gesehen und scharf angegriffen. Das "Gesamtwerk" DDR wird zu diesem Zeitpunkt aber noch positiv gesehen. Schließlich waren die meisten der namhaften Autoren aus der Emigration bewusst in die DDR gekommen, um den neuen gesellschaftlichen Ansatz zu befördern. Dem musste, so die Meinung vieler (auch Stefan Heyms zum Beispiel), zunächst einmal Entfaltungsraum gegeben werden.

Der Germanist Hans Mayer ist einer der wenigen, die Klartext schrieben und gegen politische Veränderungen, zum Beispiel eine geplante Schulreform, (die so nie durchgesetzt wurde) polemisierte, deutlich Bevormundung anklagte und Aussprachen, deren Ausgang vorgegeben war, nicht wahrnahm. In den Jahren 1956/57 allerdings war dieser Anfangsbonus verbraucht. Die Auseinandersetzungen mündete in Prozesse und langjährige Haftstrafen.

Nach 1990, die erste Einheits-Euphorie war verflogen, wurden Neubundesbürger aus der DDR in Debatten über Demokratie gern mit dem Hinweis abqualifiziert, ihr demokratisches Bewusstsein sei verkümmert, sie seien die Anpasser schlechthin. Eine Meinung, die nach der Lektüre der Veröffentlichungen zum 17. Juni ad absurdum geführt ist. Nach dem Ende des II. Weltkriegs kamen Deutschland verändernde Impulse mindestens in zwei Fällen aus jenem Drittel der Bevölkerung zwischen Elbe und Oder - 1953 und 1989. Sie waren nach den Polen die Ersten im Ostblock, die Kritik auf die Straße trugen, Ungarn, Tschechen und Rumänen folgten. Sie haben eine demokratische Tradition, die vor der Veränderung von Machtverhältnissen nicht Halt gemacht hat.


Hans Bentzien: Was geschah am 17. Juni? - Vorgeschichte, Verlauf, Hintergründe, 214 S., Edition Ost, Berlin 2003 12,90 EUR


Burghard Ciesla: Freiheit wollen wir!- Der 17. Juni in Brandenburg, 256 S., Ch.Links, Berlin 2003 19,90 EUR


Hubertus Knabe: 17. Juni 1953 - Ein deutscher Aufstand, 485 S., Propyläen, München 2003, 25 EUR


Volker Koop: Der 17. Juni 1953 - Legende und Wirklichkeit, 428 S., Siedler, 24,90 EUR


Hans Dieter Scheermann: Der 17. Juni in Brandenburg. In: Dialog Heft 10, 67 S., Potsdam 2003


Siegfried Prokop: Intellektuelle im Krisenjahr 1953 - Enquête über die Lage der Intelligenz der DDR - Analysen und Dokumentation, 348 S., Schkeuditzer Buchverlag, 18,50 EUR

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