Nur noch zehn Prozent der heute 30 Jahre alten Ostdeutschen hoffen, dass das jetzige Gesellschaftssystem so, wie es ist, erhalten bleibt. Erstaunliche 40 Prozent hingegen halten einen reformierten, humanistischen Sozialismus wieder für eine Perspektive. Jedenfalls ergibt das eine zu Beginn der Woche vorgestellte Langzeitstudie über die Mentalität und den Werdegang sächsischer Jugendlicher. Sie wurde 1987 vom ehemaligen Jugendforschungsinstitut Leipzig begonnen und bis heute mit Hilfe von Projektförderungen, Universitäten, Fachhochschulen und zuletzt mit Mitteln der Rosa-Luxemburg-Stiftung fortgeführt. Auch wenn die Studie nur für eine bestimmte Altersgruppe Repräsentativität beanspruchen kann, wie der Forschungsleiter Peter Förster betont, sind die Ergebnisse wahrscheinlich symptomatisch für die Erfahrungen einer ganzen Generation in Ostdeutschland.
Als die Studie erstmals durchgeführt wurde, waren die Befragten ganz normale 14-jährige Schüler. Aus ihren Antworten sprach schon damals wenig Glaube an Autoritäten, gepaart mit einem wachen Gespür für die Probleme der DDR und ausgeprägter Endzeitstimmung, aber auch mit der Illusion von totaler Zukunftssicherheit. Seit der Wende hat es kontinuierliche Befragungen derselben Gruppe gegeben - 70 Prozent beteiligen sich bis heute -, aus denen sich Hoffnungen und Enttäuschungen während des Systemübergangs, reale Veränderungen und Ängste in der neuen Gesellschaft ablesen lassen. Knapp ein Viertel von ihnen ist inzwischen der alten Umgebung mangels beruflicher Perspektive entflohen, an eine Rückkehr denkt kaum jemand. Das heißt auch: Die Hoffnung auf eine grundlegende Änderung der wirtschaftlichen Verhältnisse in Ostdeutschland ist weitgehend geschwunden, die Verwandlung dieser Landstriche in Altersheime ohne Versorgungspersonal noch einmal rasant beschleunigt.
Dabei sahen die Daten bis 1993 noch anders aus. Damals hatten nur 18 Prozent der Befragten im eigenen Umfeld Erfahrungen mit Arbeitslosigkeit gemacht. Inzwischen sind 64 Prozent mindestens einmal, häufig auch mehrmals arbeitslos gewesen. Eine prägende Generationserfahrung, die auf das Verhalten dieser Gruppe in jedem gesellschaftlichen Bereich wirkt: von Familiengründung über Gesundheit bis Politikbereitschaft. Mit einer kurzen Unterbrechung im Wahljahr 1998, das Hoffnungen weckte, sind die Werte, die über Wohlbefinden in dieser Gesellschaft Aufschluss geben, inzwischen auf ein knappes Viertel abgestürzt. Nur noch 26 Prozent sind mit dem wirtschaftlichen, nur noch 22 Prozent mit dem politischen System zufrieden und für kaum noch zehn Prozent ist die aktive Teilnahme am politischen Leben wichtig.
Eine der großen Hoffnungen dieser Generation war die Mitwirkung an einer neuen demokratischen Gesellschaft. Davon ist fast nichts geblieben. Statt dessen sah man sich zu weitgehender Anpassung gezwungen. Nur knapp drei Prozent sind mit dem bundesdeutschen System heute noch uneingeschränkt zufrieden. Die anderen haben ihre Illusionen begraben. Für sie folgte der großen Enttäuschung über die DDR die beinahe ebenso große über die gegenwärtige Gesellschaft.
Dennoch stellt kaum jemand die Wende in der DDR oder die Einheit Deutschlands in Frage. Es ist, als hätten diese Dreißigjährigen den Erwachsenenstatus mit einer Desillusionierung über alle Systeme hinweg bezahlt. Ihre Vorstellung von einer humanistischen und sozialistischen Alternative ist eher als mögliche Utopie einer kommenden Generation zu verstehen, eigenes Engagement in diesem Sinne ist jedenfalls nicht zu erkennen. Stattdessen dominiert die große Ernüchterung über demokratische Möglichkeiten und reale Perspektiven. Hoffnung auf Veränderungen ist nicht vorhanden, die Vorstellung, eigenes Engagement könnte etwas bewirken, fehlt nahezu vollständig. Bemerkenswert ist auch, dass junge Frauen dieser Gesellschaft noch weit weniger trauen als ihre männlichen Altersgefährten. Sie sehen kaum Perspektiven für das eigene Fortkommen.
Inwieweit Studien in den alten Bundesländern anders ausfallen würden, lässt sich leider nicht sagen, sie existieren nicht. Nach Meinung der Autoren gibt es aber einen direkten Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und Gesellschaftssicht. Je intensiver die Berührungen mit zeitweiliger oder genereller Zwangssuspendierung von Arbeit sind, desto kritischer auch die Sicht auf diese Republik. Daraus würde folgen: Je höher die Prozentzahlen von Arbeitslosigkeit in den alten Bundesländern steigen, desto größer die Annäherung an die Ergebnisse dieser Studie in einer vergleichbaren Altersstufe. Dass sich ein großer Teil der Befragten trotz eigener Integrationsbemühungen noch immer als Bundesbürger zweiter Klasse sieht, hat offenbar mit der im Schnitt doppelt so hohen Erwerbslosigkeit zu tun und mit der Tatsache, dass die Region mit ihren Problemen von der Politik kaum noch wahrgenommen wird. Die ist längst bereit, nicht nur ein Europa der zwei Geschwindigkeiten, sondern auch ein Deutschland der zwei Geschwindigkeiten hin zu nehmen. Damit schwindet der von der Politik so gern eingeklagte, aber durch keine Rahmenbedingungen geförderte Optimismus, der eine Gesellschaft lebendig, innovativ und dynamisch macht.
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