Sechzehn hochrangige Personen mit Osterfahrung, im Ausnahmefall sogar direkt aus dem Osten (neben Klaus von Dohnanyi und dem ehemaligen DDR-Staatsbankchef Edgar Most Wirtschaftsfachleute und Wissenschaftler), haben getagt und festgestellt: Die Situation ist dramatisch, aber nicht hoffnungslos. Um das Ziel - die Angleichung der Lebens- und Arbeitsbedingungen in West und Ost - zu erreichen, müsse sich etwas ändern. Doch war das überhaupt das Ziel? Hatte, wer die innovativen Kerne einer Volkswirtschaft zerschlägt, deren Modernisierung im Sinn?
Für den Touristen ist die Besichtigung der zunehmend entvölkerten Landschaft im Osten einfacher denn je: Über gut ausgebaute Straßen gelangt er in Orte mit zahlreichen Drei- und Vier-Sterne-Hotels, ihn erwarten liebevoll hergerichtete Baudenkmäler und Sehenswürdigkeiten, die sich als kulturelle Erlebnisräume verstehen und mit wenigen Ausnahmen seit Jahren geduldig auf den großen Besucherstrom warten. Nicht ausgelastete Gewerbegebiete konkurrieren dort mit leer stehenden ehemaligen Fabrikanlangen, gelegentlich auch schon mit Investitionsruinen, deren Abriss irgendwann billiger sein wird als der Unterhalt.
Aber es ist sauber in den meisten Gegenden, der Eindruck auf Besucher günstig. Auch in das kleinste Dorf hat sich die in der DDR so vernachlässigte Farbe verirrt. Nur das Grün der Felder sucht man vergeblich, denn die Bodenqualität der meisten Gegenden hat die EU veranlasst, riesige Brachen zu unterhalten. Zwei Mal im Jahr mit dem Pflug darüber, das ist nicht viel Arbeit für einen ausgewachsenen Mann. Das kleine Sägewerk im Ort ist seit langem dicht, die Marmeladenfabrik ebenso, Schwartau versorgt den Osten mit. Was 1990/91 wie der notwendige Kahlschlag vor der Erneuerung des Produktionspotentials aussah - die Räumung der alten Küche ist nötig, bevor die neue eingebaut wird -, hat sich als dauerhafte Verödung erwiesen. 14 Jahre nach der Wende ist das Produktionsvolumen mit Mühe dort wieder angekommen, wo es 1989 in der DDR abbrach. Nullwachstum über anderthalb Jahrzehnte.
Heute erscheinen die neuen Länder als Klotz am Bein des möglichen bundesdeutschen Wirtschaftsaufschwungs. Doch nur umgekehrt wird ein Schuh daraus, sagt Sachsens Wirtschaftsminister Gillo (CDU). Die Krise in den alten Ländern, Resultat einer unterbliebenen rechtzeitigen Modernisierung bundesdeutscher Unternehmen, verschärft heute den sozialen Druck von Sachsen bis zur Küste. Die dort für den Aufbau zur Verfügung gestellten Mittel sind nicht selten - erinnert sei zum Beispiel an die Bremer Vulkanwerft - direkt in den Mutterkonzern geflossen. Produkt- und Produktionsinnovation fand in beiden Teilen Deutschlands nicht statt: Im Westen, weil er aufgrund des Absatzbooms im Osten keine Veranlassung sah, im Osten weil dort nicht nach modernstem, sondern nach westdeutschem Vorbild modernisiert wurde. Die Vereinigung hat die Probleme nur gestreut und zeitlich verschoben. Und weil der Osten sich als Experimentierfeld für Sozialabbau geradezu anbot. Insofern ist die derzeitige "Ostjustierung" der Wirtschaftspotentiale ins jeweils billigste Ausland nur die Verlängerung des Abschwungs. Die Binnennachfrage schrumpft bereits seit einiger Zeit. Auf Dauer wird das durch die Auslandsnachfrage nicht aufgefangen werden können.
Nun schlägt die Kommission vor, die Mittel der bisherigen "Flächen"- Förderung direkt in die Betriebe umzuleiten. "Es ist einfach nicht mehr genug Geld da", sagt Klaus von Dohnanyi. Die Idee der Direktinvestition ist nicht eben neu, Minister Stolpes "Leuchttürme" waren schließlich auch als suggestive Mittelstandserheller gedacht, die den angrenzenden Raum überstrahlen und vorwärts reißen sollten. Die Effekte blieben so begrenzt, dass die Orientierung an den "Leuchttürmen" Schiffbrüchigen wenig Hilfe bietet. Auch in der Nähe funktionierender Wirtschaftsansiedlungen dümpeln die ostdeutschen Ländern vor sich hin, ein selbsttragender Aufschwung ist nicht in Sicht. Investitionen dieser Art können zwar akute Probleme lindern, der dauerhaften Entindustrialisierung wirken sie nicht entgegen. Steuererleichterungen, modifizierte Auslegungen des Finanzrechts, wie angeregt, geben da schon mehr her. Sie stärken die regionale Verantwortlichkeit, kalkulieren Besonderheiten ein und drängen auf ein vernünftiges Verhältnis von Investition und Arbeitsplatzvolumen. "Hoffnungszentren", wie sie Minister Clemens vorschweben, versprühen allerdings überhaupt keine Impulse. Sie erinnern nur noch an Unterkünfte für Missionare, um diese samt ihrer Glaubenssätze nicht gänzlich im Regen stehen zu lassen.
Ginge es wirklich um die Rückgewinnung ostdeutscher Standorte, ostdeutschen Potentials für Produktion und Innovation, müssten die Investitionen in Wissenschaft und Forschung hoch gefahren werden. Die Kommission forderte das tatsächlich auch. Vorausgesetzt, dies gelänge: Die aus dem Weg geräumte Konkurrenz im eigenen Land feierte fröhliche Auferstehung. Entstünde daraus jedoch schon eine eigenständige Ökonomie der östlichen Länder und flössen die Gewinne dann nicht mehr in die Mutterkonzerne? Würden die Löhne angeglichen und ein Aufholprozess in Gang gesetzt, der zur Angleichung der Lebensverhältnisse führte? Die derzeitige Politik jedenfalls fährt gerade auf dem Gegengleis: Die Berliner Wissenschaftslandschaft wird um über 70 Millionen geschrumpft.
Der Verdacht liegt nahe: Die Debatte Aufbau Ost wird ausschließlich unter dem Aspekt der Kostenreduktion geführt. Wo lässt sich einsparen, um andere Löcher zu stopfen, ohne die Restbewohner dieser Landstriche gänzlich zu verprellen? Dieser Ansatz aber bietet kein Fundament, von dem aus langfristige, gravierende Strukturprobleme seriös gelöst werden könnten. Wie wenig von der derzeitigen Arbeitsmarktpolitik Impulse für die ostdeutschen Länder zu erwarten sind, räumen mittlerweile selbst neoliberale Vordenker wie Bert Rürup ein: "Dort gibt es einfach keine Stellen". Wäre nur der Aufbau Ost gefährdet, man könnte ein riesiges Naturreservat einrichten. Tatsächlich verliert der "Standort Deutschland" nicht nur wirtschaftliche Kompetenz, er verliert auch an Gewicht als Partner der Industrialisierungsprozesse in Osteuropa.
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