Jeder macht von Zeit zu Zeit eine Art Bestandsaufnahme seiner selbst und der Umstände, die sein Leben bestimmen. Gelegentlich nicht weniger vielschichtig als die, die in Meßmers Reisen vorgelegt wird. Die Bestandsaufnahme verzeichnet einen neuen Ausgangspunkt. Sie schreibt nichts fest, um es unverändert zu lassen, sondern um mögliche Verzweigungen erkennen zu können.
Martin Walser hat knapp 20 Jahre zwischen eine erste und die jetzige gelegt. 1985 versuchte er mit Meßmers Gedanken die erste Bilanz, jetzt folgt die rigoros Ergebnis orientierte zweite. Sie liefert neben kritischer Weltsicht, literarischer Selbstverständigung vor allem Lebensbetrachtung, Alltagserkenntnis, das, was im Kopf eines Literaten vorgeht. Meßmer, die zentrale Figur, um die herum Walser das Buch baut, reist, er reist so gut wie immer. Die Stunden zwischen Abfahrt von einem Ort und Ankunft an einem anderen sind ideale Selbsterfahrungsgelegenheiten. Der Rhythmus ist vorgegeben, die Impulse stürzen an jeder Station wie Wasserfälle über den Autor her. Andere Menschen, neue Städte, jeder Endruck einmalig, unwiederholbar. In ihrer Summe ergeben sie dennoch kein Buch des Reisens, sondern enthüllen die aggressiv kommentierende, versöhnlerische, manchmal larmoyante Gedankenwelt dessen, der sich von A nach B begibt: Meßmer, weitgehend identisch mit dem Autor. Seine Art der Beobachtung ist Gegenstand der Prosanotizen: Bis zur Boshaftigkeit genau, sentimental, freundlich beobachtend. "Wenn du befürchten mußt, daß dies das letzte Mal sein wird, daß du nach Osnabrück kommst, dann kriegt Osnabrück ganz schnell einen unheimlichen Glanz." Walser notiert fast immer gänzlich aus sich selbst heraus wirkende Feststellungen, Endpunkte eines Denkprozesses, dessen Beginn der Leser in den meisten Fällen nicht kennt. "Vergessensleistungen sind verlangt zur Fortsetzung des Lebens", stellt er fest. Welche? Alle, einige, bestimmte. In jedem Leben findet sich Bestätigung - oder auch nicht.
Meßmer ist keine Figur, deren Konturen über ein paar Hausnummern hinaus - Professor, Germanist, verheiratet - erkennbar sind. Ein nachdenklicher Typ, nach Welterkenntnis suchend, das schon. Aber es gibt über das Reisen und die unvermittelt auftauchenden Mitfahrertypen hinaus keine Geschichten, die der Leser als Anlass von Überlegungen erkennen könnte, dafür auf den Punkt gebrachte, fast aphoristisch verkürzte Sentenzen.
Nur im Mittelteil, Meßmers Reise in die USA, baut er auf Kapitel, erzählt episodisch, lässt andere Figuren als Projektionsfläche zu. Gelegentlich. Dafür andere Lebensart, einiges über Gefühls- und Hormonstau, Beobachtung. "Im Hotel erwartet mich ein großes dickes Kuvert ... Es waren Gedichte ... Ich fühle mich beim Lesen von HH beobachtet. Sie ist weder Mann noch Frau. Sie ist ein Engel. Aber kein friedlich sinniges Engelsgeschöpf, sondern eben ein Kampfengel. Immer diese zwei Kreuze um den Hals. Das große hängt ihr in die zwei Knöpfe weit offene Bluse.
Das Buch kann in kürzester Zeit gelesen werden. Wenn es allerdings mit dem Erkenntnisprozess bei Walser, seinem Autorendasein oder eigenen Lebenserfahrungen verbunden wird, erfordert die Lektüre Zeit. "Euer Meinen ist mir gleichgültig. Olga leidet. Olga häuft Leid. Sie leidet im Akkord. Möglichst viel pro Sekunde." Daraus folgt bei Walser: "Alle sozialen Bedingungen negieren, die besten Vorschläge für die Aufhebung dieser Bedingungen hat bis jetzt das Christentum gemacht. Und seine Folge: der Marxismus. Praxis nirgends." Es liegt im Ermessen des Betrachters, in Walsers Werk nach Ableitungen seines Marxismus- oder Glaubensbegriffs zu suchen, einfach aufzuschreien oder einen Gedankengang zu finden, der mittels eigener Erfahrung in die Nähe eines solchen Ergebnisses führt oder als Gegenentwurf dienen kann. Zu polemisieren oder hinzunehmen. Leiden wir, um aufzuhäufen, oder finden wir auch im Leid Argumente, um Gegenentwürfe zu schaffen? Was haben Marxismus oder Christentum damit zu tun? Sind sie Verarbeitungsstrategien, Versprechungen in die Zukunft?
Walser läuft nicht vor uns her, keine deutschsprachige Führung durch das Labyrinth seiner Gedanken also. Er wirft sie uns vor die Füße und hofft auf unser Stolpern. Er will eher "Fahrtenschreiber" sein. Die Auswertung liegt bei dem, der liest. Walser sieht sich nicht als Verkünder von feststehender Weisheit, sondern als einen, der denkt. Das mag eine polemische Anspielung auf die Auseinandersetzungen um Tod eines Kritikers sein oder auf die harschen Urteile über seine Paulskirchenrede. Zweifellos ist es ein Plädoyer für die Unbeschränktheit des Raums, der Literatur zur Verarbeitung von Realität zustehen soll. "Phantasie ist Erfahrung". Ist Literatur. Alles ist dem Literaten offen, was die Wirklichkeit ausmacht. Dieses Plädoyer schiebt die Verantwortung für das, was einer einem literarischen Werk entnimmt, dem Rezipienten zu: "Ich muß mir einreden, daß die Wörter, die ich hinschreibe, nicht nur beliebige Zweckdienlichkeiten sind..." Oder "Daß er davon gelebt hat, daß andere ihn wahrnahmen. Jetzt ist Schluß mit diesem Scheinleben". Gedanken eines Autors sind aber Teil der Realität und damit Teil der Literatur, wahr und unwahr, Anregung und Behinderung. Fakten, die Reaktion herausfordern.
"Im Papierblütenparadies. Vorkommendes Martern, bis es dich ausdrücken kann. Schutz suchen jenseits der Entsprechungen. Jetzt ächzen die Blätter im Wind. Zu meiner Freude." Meßmers Reisen verteidigen jedes Thema als literaturwürdig, jede Gattung als legitim, jeden Gedanken als einmaliges Produkt, der festgehalten werden muss, jede Absurdität als Teil des Lebens, jede Nichtigkeit als unerhörtes Ereignis. Aber nur gelegentlich mit jenem philosophischen Hintergrund wie im ersten Band, der das Buch zu mehr als einem ausdeutbaren Angebot machte. Es ist ein Buch zum Blättern, prall mit Zitierbarem gefüllt. Der eine oder andere Gedanke wird - sicher - in einem künftigen Walser Band auftauchen. Lebensweisheit und Munition - gebündelt von einem, der gerne scharf schießt.
Martin Walser: Meßmers Reisen. Suhrkamp. Frankfurt am Main 2001, 152 S.,
17,90 EUR
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