Ungefähr zehn Millionen Menschen wurden während des Zweiten Weltkriegs in Deutschland zur Zwangsarbeit herangezogen, der Legende nach weitgehend auf Rüstungs- und Industriebetriebe begrenzt. Tatsächlich aber hat es kaum einen Ort gegeben, in denen Zwangsarbeiter nicht Straßen bauten, das Vieh versorgten, Schutt wegräumten. 55 Jahre später feilscht die Bundesrepublik noch immer um Modalitäten der Entschädigung, und die Bürger kommentieren mehr oder weniger geschichtskritisch, welche Firmen sich am Entschädigungsfonds warum beteiligen. Aber Zwangsarbeiter im Heimatort? Nein, die habe es nicht gegeben, so die übliche Antwort in jeder x-beliebigen Stadt. Es gibt nur wenige Ausnahmen.
Als sich die Städte Brandenburg und König
rg und Königs Wusterhausen Ende vergangenen Jahres entschlossen, dem Beispiel Münchens zu folgen - die bayerische Metropole will im Frühjahr ihren Fonds auf den Weg bringen, allerdings ohne Debatte - und eine eigene Beteiligung am Entschädigungsfonds zu prüfen, gefielen sich andere Stadtoberhäupter in der Frage: Wieso ausgerechnet die Märker? Haben sie zu viel Geld in den Kassen oder besonders von der Zwangsarbeit profitiert?Sie haben profitiert, allerdings nicht mehr als viele größere und kleinere Städte auch. Anders als andere wollen sie aber nicht auf die "gemeinsame Position des Städte- und Gemeindebundes" warten. Es geht ihnen nicht um eine neue Kollektivschulddebatte, es geht auch nicht um einen allgemeinen moralischen Appell, der im großen nationalen Topf untergerührt wird, sondern um die konkrete Auseinandersetzung mit Ortsgeschichte, mit dem, was in der unmittelbaren Umgebung der Bürger geschah. Und um die Diskussion darüber, wie mit dem Neonazismus von heute umgegangen werden kann.BrandenburgBrandenburg, uralte, mittelgroße Stadt an der Havel, vollgestopft mit Militär und Industrie, zwischen 33 und 45 Kasernen - Straßenzüge weit: Flick kochte auf einem riesigen Gelände Stahl, Opel baute die rollenden Untersätze für den Vormarsch, in der Kammgarnspinnerei entstand das Tuch für Uniformen, dazu zwei Flugplätze, von denen aufgestiegen wurde, um den Luftkrieg zu entscheiden. Ein Zuchthaus, in dem politische Gefangene saßen und eine psychiatrische Klinik, die damals noch "Landesirrenanstalt" hieß und sich des "unwerten Lebens" als eine der ersten zu entledigen begann. Den "Geburtsort der Euthanasie und der ersten Vergasungen" nannte der CDU-Stadtverordnete Friedrich von Kekulé Brandenburg. Er hat den Vorschlag zur Beteiligung am Entschädigungsfonds eingebracht, gebilligt ist er inzwischen von allen Fraktionen. 15.000 Zwangsarbeiter, ein Fünftel der damaligen Bevölkerung, haben eben nicht nur für Flick und Opel geschuftet, sie haben Kriegsmüll weggeräumt und die Trichter auf den Straßen zugeschüttet, Brücken geflickt und überall ausgeholfen, wo es Not tat. Selbst der Schuster an der Ecke hatte eine Hilfskraft aus Polen, die aus alten Reifen Sohlen schnitt, damit der "Meister" sie irgendwie am uralten Schuhwerk befestigte.Brandenburg gehört heute zu den ärmeren Städten. Die großen Betriebe sind geschlossen. Psychiatrische Klinik und Zuchthaus aber gibt es und eine Geschichte, die von den Querelen der Gegenwart überwuchert zu werden droht. Für die Domstadt geht es um die letzte Möglichkeit, Geschichte nicht nur zu delegieren, sondern auf sich selbst zu beziehen, Verpflichtung für die Zukunft zu formulieren und dazu beizutragen, dass der Einzelne sie nicht nur als Teil einer unberührbaren alten Zeit, sondern seines Lebens begreift. Die Stadt wird keine Reichtümer verteilen können, aber sie will ihre Bewohner bitten zu spenden. Fünf Mark von jedem ergäben fast eine halbe Million.Benefiz-Konzerte, Ausstellungen, Filme, Zeitzeugenbefragungen sollen ausleuchten, was ins Dunkle abzurutschen droht. Ob das Ergebnis der Sammlung dann aus der Stadtkasse aufgefüllt werden wird, steht noch nicht fest. Aber die symbolische Geste, Geschichte in Gänze anzunehmen - die Forderungen nach Zahlungen der Großindustrie werden davon nicht berührt - ist im Stadtparlament unumstritten. Ob sich diese schwierige Balance zwischen Erinnerungskultur und politischem Gegenwartsverständnis herstellen lässt, wird erst feststehen, wenn der Spendenaufruf umgesetzt werden soll.Königs WusterhausenInhaltliche Auseinandersetzung mit der Zeit des Faschismus ist auch für die zweite brandenburgische Stadt, Königs Wusterhausen, das Motiv, sich am Entschädigungsfonds zu beteiligen. Bislang wurde sie, wenn überhaupt, im Zusammenhang mit neonazistischen Ausschreitungen genannt. Bürgermeister Jochen Wagner verspricht sich von einer möglichst intensiven öffentlichen Debatte um eine solche direkte Form der Beteiligung spezifisches Wissen über örtliche Beteiligung am NS-Unrecht. Vor allem bei jüngeren Menschen, die keine Erinnerung haben und selten Gesprächspartner in den Familien finden. Vorbeugung - und dazu gehört auch, rassistische Straftaten einzudämmen - ist ihm und einem seit 1998 arbeitenden Präventionsrat wichtig. Kenntnis historischer Fakten soll für junge Leute die Möglichkeit schaffen, Lippenbekenntnisse so genannter Nationaler auch heute kritisch unter die Lupe zu nehmen. Zweifeln an diesem didaktischen Konzept begegnet er mit den guten Erfahrungen einer anderen Aktion: Seit der 27. Januar, der Tag der Befreiung von Auschwitz, als Gedenktag für die Opfer der Gewaltherrschaft begangen wird, übernimmt die Ausgestaltung der Feierstunde im Ort jeweils eine andere der weiterführenden Schulen. Ein Jahr lang beschäftigen sich Schüler dann mit "ihrem" Thema und der Art, wie sie es umsetzen wollen. Es geht dabei nicht nur um das Studium von Dokumenten, sondern auch um konkrete Arbeit, in diesem Jahr im KZ Stutthoff. Die Debatte um die Beteiligung am Entschädigungsfonds fügt, so sein Ansatz, dieser Arbeit eine andere Facette hinzu und schärft den Blick für das, was um die Schüler herum vorgeht. Geschichte ist nicht teilbar, in ihrer Gesamtheit liegt das Potenzial, das Entwicklung möglich macht.Königs Wusterhausen war und ist nicht nur eine Vorstadt von Berlin, sondern eine Gemeinde, in der Betriebe, größere und kleinere, aber auch die Stadtverwaltung, Bauern, Handwerker, Teile der ganz normalen Bevölkerung in nationalsozialistisches Unrecht eingepasst waren. Es gab eine Außenstelle des Konzentrationslagers Sachsenhausen und mehrere kleinere Lager für Zwangsarbeiter. Von zirka achthundert finden sich heute noch die Unterlagen, ob das alle waren, weiß man nicht. Sie wurden Tag für Tag über die Stadt verteilt, zu den jeweiligen Arbeitsstellen gebracht. Auf beinahe makabre Art war die Stadt internationaler als sie es heute ist.Die historische Spurensuche ist in eine Broschüre geflossen, die der Chronik der Stadt eine Menge dunkler Seiten hinzufügt. Sie soll nun helfen, selbstkritisch mit einem Thema umzugehen, dass von anderen Städten ausschließlich auf "die da oben" delegiert wird. Die Rechten, in diesem Falle die NPD, sind damit aus der Stadt nicht verschwunden. Vorerst haben sie mit einer Erklärung protestiert. Das macht dem Bürgermeister allerdings weniger zu schaffen - "Wer den Holocaust leugnet, hat kein Recht mitzureden" -, als die Tatsache, dass die moralische Verpflichtung unter Umständen gar nicht wahrgenommen werden kann. Der für die Städte so wichtige Teil antinazistischer Vorbeuge-Therapie ist abhängig davon, ob der Fonds sich Spendern überhaupt öffnet. Berlin, Potsdam, Frankfurt haben abgelehnt. Sie beteiligen sich nur, wenn es einen entsprechenden Beschluss der Städteversammlung geben sollte. Das aber wäre etwas ganz anderes als das, was Brandenburg und Königs Wusterhausen wollen. Das aktivierende Element bliebe auf der Strecke.
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