Wer fragt in einem alten Haus schon nach Geschichte? Wer hört hin, wenn alte Gemäuer erzählen, was in ihnen war? Das ganz gewöhnliche Leben wird es gewesen sein, denkt der Bewohner von heute und vergräbt sich in seinen Alltag. Für die Autorin Regina Scheer ist das anders. Ihre alte Schule, in der sie vor dreißig Jahren das Abitur machte, unweit des jüdisch geprägten Berliner Scheunenviertels, wurde ihr zur literarischen Aufgabe, die sie nicht wieder loslassen kann.
AHAWA hieß das erste Buch, das daraus entstand. Es ist der Name eines jüdischen Kinderheims, das zuvor Altersheim, später Ausgangspunkt von Vernichtungstransporten und in der DDR eben Schule war, mitten in einer Straße, in der damals wie heute die Bewohner behäbig auf Sofakissen im Fenster liegen und das Auf und Ab kommentieren. Damals sahen sie nichts.
Die Autorin, die im ersten Buch die Geschichte des Hauses und seiner Menschen im Faschismus beschrieb, verfolgt dieses Thema nun bis zum Ende des Jahrhunderts weiter. Waren alle Kinder umgekommen? Wo leben sie, wenn sie leben? Wie war das Verhältnis von Deutschen und Juden damals, und wie ist es heute? Lange vor den Rassegesetzen der Nazis gab es Spannungen, und es gab das Miteinander, die Illusionen von assimilierten und anderen Juden, und auch die der Deutschen. Kann man nach dem Faschismus überhaupt noch von einem Verhältnis sprechen?
Regina Scheer fand eine der damaligen Erzieherinnen, Hanni Ullmann, neunzigjährig, immer noch aktiv in der Betreuung von Kindern, am Rande der Negev-Wüste. Eine für das israelische Erziehungswesen unverzichtbar gewordene Frau, die die AHAWA-Idee nach Israel trug und später das Kinderheim NEVE HANNA gründete. Scheers neues Buch Es gingen Wasser wild über unsere Seele bleibt dicht am Leben dieser Frau, beinahe zwangsläufig wird daraus eine Geschichte von deutsch-jüdischen Beziehungen. Sie findet einige der Kinder aus der AHAWA in Hannis Umgebung, erzählt deren Schicksal und das jener Männer und Frauen, die - manchmal auf merkwürdige, manchmal auf sehr direkte Weise - mit Hanni oder mit Deutschland verbunden sind: So furchtbar wie die deutsche Geschichte dieses Jahrhunderts und manchmal so skurril, wie das der Else Lasker-Schüler. Hanni Ullmann gehört nicht zu jenen, die vor den Nazis flohen. Sie verließ Deutschland schon 1929, zusammen mit ihrem Mann und jüdischen Waisen, armen, im Abseits existierenden Kindern aus der AHAWA. Dort, im jüdischen Palästina, sieht sie ihre zionistisch sozialistische Vision von Gerechtigkeit und Gleichwertigkeit aller Menschen greifbar nahe, die auch die Basis des AHAWA-Erziehungskonzepts ist. Das Kibbuzwesen fasziniert sie, aber sie wird nie in einem Kibbuz ankommen. Sie kann einfach die einmal gewählte Aufgabe nicht aufgeben. Kinder, als Juden verfolgt, von einer barbarischen Heimat ausgestoßen, mühsam außer Landes geschafft, kommen aus der bis Anfang der vierziger Jahre noch existierenden Berliner AHAWA und dem von den Nazis überfallenen Europa. Kinder, in Trecks oder allein, schwer geschädigt, vom Leid verformt, durch Europa und über die Meere geschoben. Elternlos.
Von Hanni wird nicht Mitleid erwartet, sondern ganz selbstverständliche Aufnahme, Fürsorge für die Seele, damit die Kinder aus ihrem totenähnlichen Zustand zum Leben zurückfinden. Sie kann nichts anderes denken als die Zukunft dieser Kinder. Sie akzeptiert keine Klassifizierungen und Vorurteile: Sie tut das Nötige. Lebt, zusammen mit ihrem Mann und den eigenen drei Kindern unter ihnen und manchmal können die eigenen Kinder das nicht verstehen. AHAWA ist das Heim aller. Es gingen Wasser wild über unsere Seele, wer den Spuren des Wassers folgt - das genau tut Hanni, und die Autorin schließt sich ihr an - öffnet Räume, in denen aus den kleinen Opfern Persönlichkeiten wachsen können.
Später kommen entwurzelte Juden aus arabischen Ländern, die kleinen menschlichen Wracks aus den verpfuschten Leben gebeutelter Eltern, schließlich die russischen Emigranten, deren Kinder in dieser anderen Welt manchmal stören. Hanni, das ist Mutter- und Vaterersatz, Lehre, Erziehung, soziale Verwurzelung.
Hannis Träume vom konfliktfreien Leben in Israel, in dem das Prinzip von Solidarität und Gleichheit Staatsdoktrin ist, werden bald seltener - das Miteinander, das sie mit den Palästinensern sucht, ist von beiden Seiten nicht gewollt. Sie registriert die Verwerfungen und ist doch das, was man eine israelische Patriotin nennen würde: Wach und kritisch, aber vor allem solidarisch, da für alle, die Hilfe brauchen, selbst dann, wenn sie längst Erwachsene sind.
Wer seinen Beruf so auffasst, kann nicht aufhören, weil die Altersgrenze es vorschreibt. Mit Spenden von deutschen und schweizer Freunden gründet sie NEVE HANNA, das Heim, in dem sie noch einmal Juden und Palästinenser zusammen zu bringen versucht, auch wenn sie inzwischen weiß, dass die Angst voreinander tief sitzt, was aber heißt das für so eine Frau? Immer neu beginnen.
Wer äußere Spannung erwartet oder romanhaftes Dekor, wird das nicht finden. Die Autorin arbeitet mit schmuckloser, klarer Sprache und vertraut ganz auf die Faszination dieses Frauenlebens, das von den Utopien und den Verbrechen des Jahrhunderts bestimmt ist. Sie verknüpft Begegnungen in Israel, Gespräche, Pläne, Vorhaben, Hannis Reise nach Berlin und den Besuch in jener Wohnung, in der die gutbürgerlich Erzogene aufwuchs, mit den manchmal ausführlich geschilderten, manchmal nur angerissenen Schicksalen der kleinen Heimbewohner, die sich aus Erinnerungen und schriftlichen Zeugnissen erschließen. Es entsteht eine immer wieder unterbrochene, mosaikartig zusammengesetzte Geschichte, die mit dem jüdischen europäischen Leben in diesem Jahrhundert auf selbstverständliche Art verbunden ist. Denn für alle, die aus Europa nach Israel kamen, bleibt irgendwo ein Band. Das muss keineswegs verknüpfen. Vielleicht ist es sogar stärker, wenn es aus rigoroser Ablehnung besteht, wie das zu Deutschland. Aber es ist die Personifizierung dessen, was Europa sein könnte und dem, was es in diesem Jahrhundert durch deutsche Schuld war, und eine wichtige Prägung des heutigen Israel.
Regina Scheer: Es gingen Wasser wild über unsere Seele, Ein Frauenleben, Aufbau-Verlag, Berlin, 285 S., 39,90 DM
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