1,4 Milliarden gute Gründe hatte die New Yorker Richterin Shirley Kram, als sie sich vorige Woche weigerte, die Sammelklage von ehemaligen NS-Zwangsarbeitern gegen deutsche Banken abzuweisen. Denn 1,4 Milliarden Mark fehlen noch immer im Fonds der Stiftungsinitiative. Peanuts eigentlich. Die deutsche Wirtschaft versucht inzwischen das Prinzip "Rechtssicherheit gegen Geld" zu "Geld gegen Rechtssicherheit" umzukehren. Mit Auszahlungen sofort zu beginnen, könne man den Aktionären nicht vermitteln, heißt es. Das hat sich die ehemalige Daimler-Benz-Zwangsarbeiterin Józefa Janina Rucinska aus Warschau auch schon persönlich anhören müssen.
Janina war siebzehn. Sie ging noch zur Schule, ein Mädchen mit Zöpfen über dem Matrosenkragen, da wurde sie in Warschau auf der Straße eingefangen, nach Deutschland gebracht, ins Lager Ravensbrück, auf dem Appellplatz nackt im Kreis herumgetrieben, damit der Abgesandte der Firma Daimler-Benz ihre Muskeln prüfen konnte. Sie kam nach Genshagen-Ludwigsfelde, in den nationalsozialistischen Musterbetrieb der Daimler-Benz AG. Janina montierte mit 1.100 anderen Sklavenarbeiterinnen in der so genannten Deutschlandhalle Flugzeugmotoren für den Endsieg der Deutschen, lernte Worte wie "Halt die Klappe", "Schneller, schneller", "Halt die Schnauze", "Los, los", "Polnische Schweine" und mit geschlossenen Augen die Graupensuppe herunterzuschlucken, in der die Graupen keine Graupen, sondern fette Würmer waren. Den Ekel musste man einfach wegschieben, wenn man am Leben bleiben wollte.
Ach, es ist keine besondere Geschichte, die Józefa Janina Rucinska aus Warschau widerfuhr, und man hat sie so oder ähnlich in den letzten Jahren oft gehört. Janina war eine ganz gewöhnliche Zwangsarbeiterin aus Polen, eine von Tausenden, sie hat ja Glück gehabt, sie liegt nicht auf dem Friedhof von Ludwigsfelde wie mehrere hundert ihrer Kameradinnen, sie ist nicht unter den 148 "Unbekannten", die man erst vor einem Jahr von ihrem Massengrab an der Autobahn auf den Friedhof überführte, ihre Asche liegt nicht am Grunde des Schwedt-Sees, sie ist an keiner der Alleen entlang der Todesmarschstrecke verscharrt worden.
Janina kehrte zurück, war krank, aber wer war das nicht in Warschau 1945, schloss die Schule ab, studierte, war dreißig Jahre lang im polnischen Außenhandel beschäftigt. Sie hatte auch mit deutschen Partnern zu tun, lernte noch einmal deutsch, richtig nach Lehrbüchern, konnte Verkaufsgespräche führen und auf Empfängen plaudern. "Schnell, schnell, polnische Schweine" kam da nicht mehr vor, aber sie hat diese Worte nicht vergessen. Und die Krankheiten nicht verloren. Oft fiel sie in Ohnmacht, einfach so, ihr Herz blieb krank, Geschwüre stellten sich ein. 1992 kamen Deutsche, die für den Film Der Stern und sein Schatten recherchierten, denen sagte sie: "Eigentlich war ich immerzu krank, und deshalb ist mein Leben so verlaufen, wie es war. Deshalb habe ich nie geheiratet. Die Zeit im Lager hat mein ganzes Leben beeinflusst. Deshalb bin ich einsam."
Aber nach dem Interview für den Film veränderte sich Janinas Leben. Sie traf durch die Dreharbeiten Frauen wieder, die damals mit ihr in Genshagen gearbeitet hatten. Gemeinsam fuhren sie zum 50. Jahrestag der Befreiung nach Fürstenberg in die KZ-Gedenkstätte Ravensbrück, legten Kränze auf dem Friedhof in Ludwigsfelde nieder und warfen Rosen in den Schwedt-See. Sie bildeten unter den Überlebenden des KZ Ravensbrück so etwas wie eine Gruppe, sie waren die "Genshagenerinnen". Janina wurde die Sprecherin der Polinnen.
Mehrere Male fuhren sie nach Deutschland, nach Ravensbrück und nach Ludwigsfelde. Sie tauschten ihre Erinnerungen aus, gaben ihre sorgsam gehüteten Fotos und Papiere an die Gedenkstätte und sie zeigten sie den Herren vom Konzern Daimler-Benz, die angereist kamen, um die Frauen im Namen der Versöhnung zu begrüßen. Sie waren sehr freundlich, schenkten den Frauen Parfüm und überwiesen der Gedenkstätte Ravensbrück Geld für die Forschung und den Aufenthalt der Frauen. Nur in einem Punkt kamen die Frauen und die neuen Vertreter von Daimler-Benz nicht überein. Es handelte sich um den Lohn der Frauen. Den könne man nicht zahlen, hieß es noch 1995, weil keine Unterlagen vorhanden seien. Aber die Frauen, zumindest die aus der Gruppe der "Genshagenerinnen", konnten Unterlagen über ihre Arbeit im Rüstungskonzern vorlegen. In den Archiven der Gedenkstätte fanden sich außerdem so genannte Überstellungslisten und auch das Konzernarchiv verfügte über Unterlagen.
Es ginge doch nicht um Geld, sondern um Versöhnung, versuchte es der Konzernvertreter. Versöhnung. Auch Janina war diesem schönen Wort nicht abgeneigt, nach all den Jahren des Schmerzes ging es auch ihr um eine Art Seelenfrieden. Sie versuchte zunächst, ihre Freundinnen zu beschwichtigen. Aber nicht alle hatten einen so guten Beruf wie Janina, das Geld fehlte bitter. Maria Walachowska mit der Häftlingsnummer 8515, die schon 1992 starb, hatte nicht einmal genug Geld für Medikamente. Und Wladislawa Mankowska sagt noch heute: "Es geht mir um meinen Lohn. Ich fordere von Daimler-Benz, dass sie uns mit Würde behandeln. Als ich meine Erinnerungen an Genshagen aufgeschrieben habe, weinte ich nur. Meine Kinder lasen es und fragten: ÂMutter, wie kann der Mensch so etwas aushalten? Und heute missachtet man uns wieder, es geht mir nicht um Treffen in einem schönen Hotel, es geht mir um das, was uns zusteht."
Ende 1998, als die Genshagenerinnen wieder nach Fürstenberg zur KZ-Gedenkstätte Ravensbrück gereist waren, als wieder zwei leitende Vertreter des Konzerns, nämlich Herr Dr. Otto Nübel, der Leiter des Konzernarchivs und Herr Dr. Lothar Ulsamer vom Finanzvorstand zu einem Treffen ins Hotel am Wentow-See luden, hatte die sanfte Józefa Janina Rucinska sich deutlich verändert. Das festgefrorene Leid war aus ihrem Gesicht gewichen.
Die Herren von Daimler schenkten Parfum
Stolz saß sie als Sprecherin der Gruppe neben den Herren, und sie trug ihnen die Ansicht der Polinnen vor. Entschädigung für all das Leid, für die gesundheitlichen Folgen ihrer Zwangsarbeit und die entgangenen Bildungschancen sei eine offene Frage, zuerst aber verlangten sie den ihnen zustehenden Lohn. An dem gäbe es keinerlei Abstriche. Herr Dr. Nübel schien verblüfft, dass seine Bemühungen nicht zu einer Ruhigstellung der Frauen geführt hatten und verwies auf den zu gründenden Fonds, leider, leider könne der Konzern ohne den Beschluss der Bundesregierung da gar nichts machen. Herr Dr. Ulsamer vom Finanzvorstand, der mit undurchdringlichem Gesicht dabeisaß, dem man ohnehin anmerkte, wie fremd ihm diese Osteuropäerinnen waren, zeigte nur einmal so etwas wie Emotion, als jemand vorschlug, die Schulden des Konzerns bei den geschädigten Zwangsarbeitern jetzt und sofort aus den Kassen des Konzerns (Jahresgewinn um die zehn Milliarden Euro) zu begleichen. "Das können wir unseren Aktionären nicht vermitteln", warf er beunruhigt ein. Unseren Aktionären.
Nach diesem Treffen brodelte es in den Frauen. Sie trafen sich in Warschau mehrmals in Janinas Wohnung und schließlich, bevor die Verjährungsfrist im Mai 1999 ablief, beauftragten sie einen Rechtsanwalt, ihren Lohn vor dem Amtsgericht Stuttgart einzuklagen. Es waren gute Momente, sie fühlten sich stark bei aller Wut und aller Enttäuschung über den Konzern, den einige schon, nicht ohne Stolz, als "unsere Firma" bezeichnet hatten.
Sich aufgerichtet zu haben, tat Janina gut. Über die alten Bilder von Gewalt und Tod legten sich neue von lebendigen, warmen Begegnungen mit den neuen Freundinnen. Noch immer trug sie gern weiße Kragen über adretten Kleidern, aber darüber nun nicht mehr das Gesicht eines verstörten, alt gewordenen Schulmädchens, über ihren Kragen leuchtete ein anderes, das schöne Gesicht einer selbstbewussten, energischen Frau. Mit einigen anderen Warschauerinnen fuhr sie im Februar 2000 nach Dresden, wo sie stellvertretend für die Gruppe den alternativen Friedenspreis entgegennahm. (Peter Grohmann mit seiner AnStiftung, siehe Freitag 7/2001, hatte das initiiert.) Zum 55. Jahrestag der Befreiung des KZ Ravensbrück im April 2000 trafen die Genshagenerinnen in Fürstenberg wieder mit dem höflichen Vertreter von DaimlerChrysler zusammen. Er bedauerte, dass noch immer keine Entschädigung erfolgt war, aber der Druck "hoher Politik" mache das dem Konzern unmöglich. Und, zu den Katholikinnen gewandt, der World Jewish Congress sei ja bekanntermaßen verantwortlich für die Verzögerungen. Und, man sprach ja zu Polinnen, die Ukrainer vor allem verlangten zu viel. Zum Friedhof nach Ludwigsfelde allerdings kam der Herr nicht mit, er hatte noch eine Aktionärs-Versammlung vorzubereiten.
Spätestens nach diesem Treffen war den Frauen klar, dass sie von "unserer Firma" nichts zu erwarten haben. Janina aber wollte etwas tun. Im Sommer kam sie nach Fürstenberg und half bei der Übersetzung von Dokumenten fürs Archiv, sie traf sich mit Schülern, denen sie erzählte, wie es ihr als 17-Jährige ergangen war. Versöhnung - dieses schöne Wort bekam so für sie einen Sinn, auch wenn einige der Frauen sich unterdes resigniert zurückgezogen hatten. In der Gedenkstätte Ravensbrück begegnete ihr auch Wolfgang Gibowski, der Sprecher der Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft. Er fragte sie, wo sie so gut Deutsch gelernt habe. Janina zögerte. Und statt ihm vom Außenlager zu berichten, von den Flüchen und Verwünschungen der Aufseher, erzählte sie über ihre Zeit als Außenhändlerin, über friedliche Begegnungen mit Deutschen in den letzten Jahrzehnten. Gibowski schien das gefallen zu haben, denn er zitierte sie. Er zitierte Janina Rucinska in einer Fernsehsendung und wurde in Zeitungen wieder zitiert. Er kenne eine polnische Zwangsarbeiterin, sagte er, die gern nach Deutschland und an den Ort des ehemaligen Lagers zurückkäme. Ganz freiwillig. Man könne also nicht verallgemeinern, wenn man von den Leiden der Zwangsarbeiter rede. Die Frau, mit der er gesprochen habe, konnte im Leben gut ihre Deutschkenntnisse anwenden, sie käme offenbar sehr gern mit Deutschen zusammen. Janina wurde eine Zeitung mit diesen Aussprüchen vorgelegt. Sie verfiel in eine tiefe, noch immer anhaltende Depression. All die Krankheiten kamen wieder. Noch vor wenigen Tagen sagte sie mir: "Ich gehe nicht mehr aus dem Haus. Das alles ist so unangenehm. Ich konnte nicht schlafen, plötzlich nicht mehr Deutsch sprechen. Ich habe alles vergessen. Meine Erinnerung war fort. Ich war sehr schwach."
Die Landesoberkasse Baden-Württemberg verlangt 50 Mark
Wenn sie an Herrn Gibowski denkt, mischen sich Scham, Verzweiflung und Wut in ihr. "Der Herr kommt zu den falschen Schlüssen. Er hat gar nichts verstanden", beteuert sie immer wieder, als könnte jemand, der sie kennt, daran zweifeln. Sie will ihm schreiben, aber seit vielen Monaten kann sie nicht schreiben.
Außerdem kam ein Brief vom Amtsgericht Stuttgart, den haben alle 25 Frauen bekommen, die um ihren Lohn klagen - inzwischen auch noch eine Mahnung. Sie sollen für die Annahme des Beschwerdeverfahrens 50 DM in die Landesoberkasse Baden-Württemberg einzahlen. "Halten Sie bitte die Zahlungsfrist ein, damit Ihnen die unangenehmen Folgen eines Beitreibungsverfahrens erspart bleiben."
Keine der Frauen besitzt 50 DM, und keine wird sie einzahlen. Aber dass die Deutschen, denen sie als junge Mädchen helfen mussten, ihren Krieg zu führen, von ihnen, den überlebenden Zwangsarbeiterinnen Geld verlangen und ihnen mit einem "Beitreibungsverfahren" drohen, ist mehr als die Frauen ertragen möchten.
Otto Nübel ist inzwischen pensioniert. Und Lothar Ulsamer, der Vertreter des Finanzvorstandes, der sich so um die Aktionäre sorgte, ist der designierte Vorstand des so genannten Zukunftsfonds, der mit 700 Millionen Mark ausgestattet werden soll. Journalisten haben seine Dissertation herausgesucht, die 1989 als Buch erschien. Sie heißt "Zeitgenössische Schriftsteller als Wegbereiter für Anarchismus und Gewalt". Zu diesen Wegbereitern zählt er Böll und Enzensberger. Immerhin erreichten einige Zeitungsartikel, dass der Chefposten beim Zukunftsfonds jetzt öffentlich ausgeschrieben werden soll. Im Moment leitet Ulsamer das Büro der Stiftungsinitiative in Berlin, deren Sprecher Wolfgang Gibowski ist.
Schon einmal hat Janina Rucinska angesichts der Suppe, die ihr im Auftrag des Daimler-Benz-Konzerns vorgesetzt wurde, lernen müssen, den Ekel einfach wegzuschieben. "Das war die Bedingung, um am Leben zu bleiben", sagte sie 1992 über diese Erfahrung, von der sie damals glaubte, sie käme nicht wieder.
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