Musik und die Stille zwischen den Tönen

Kultur In Ziegenhals bei Königs Wusterhausen kennen sie den alten Professor, der seit Jahren allein in seinem Haus wohnt, aus dem oft Klaviermusik zu hören ist. Bis vor kurzem ging er noch allein zum Bäcker, mit vorsichtigen Schritten, trotzdem sehr aufrecht. Das macht er nun nicht mehr. Aber bis in den Herbst hinein konnte man ihn täglich im See schwimmen sehen, nackt, wie er es gewohnt ist

Nun fährt ihn eine seiner Töchter, Jalda oder Kathinka, manchmal in die Schwimmhalle. 95 Jahre alt wurde Eberhard Rebling am 4. Dezember 2006.

Seine Mutter wurde 105, wehrt er lächelnd die Verwunderung der Jüngeren ab.

Er sagt, er sei gern allein. Er hört Musik, selbst spielen kann er nicht mehr.

Früher setzte er sich gern Kinder auf den Schoß, spielte mit ihnen vierhändig oder sang ihnen Kinderlieder vor. Nun sind die Enkel erwachsen. Der Bechstein-Flügel steht unberührt da, wenn die Haushilfe einmal in der Woche kommt, wischt sie die kaum sichtbare Staubschicht fort, so bleibt er schwarz und glänzend. Seit 1932 besitzt er diesen damals schon zwei Jahrzehnte alten Flügel, den er 1937 in sein niederländisches Exil nachkommen ließ. Während der Zeit der Illegalität stand er bei Freunden und 1952 folgte er ihm zurück nach Berlin.

Als Eberhard Rebling das erste Mal öffentlich als Pianist auftrat, war er 13 Jahre alt. Seinen Vater, den ausgedienten preußischen Major, dem dieser jüngste Sohn, obwohl blond und großgewachsen, zeitlebens fremd blieb, interessierten nur Militärmärsche, die zu spielen Eberhard sich weigerte. Die Mutter, sonst dem Willen ihres Mannes ergeben, förderte die Begabung ihres Jüngsten und als das brave Steingräberklavier im Esszimmer der bürgerlichen Wohnung durch die vielen Übungsstunden abgenutzt war, wurde der Bechstein angeschafft. Eberhard selbst zahlte ihn ab, soweit er konnte, das Geld verdiente er durch Klavierstunden. An der Friedrich-Wilhelms-Universität ließ er sich im Fach Musikwissenschaft immatrikulieren, sein Leben lang war die analytische Seite in ihm ebenso stark wie die musische. Dass ein Mensch seine Gefühle ungeniert zeigen kann, spontan weinen und lachen, temperamentvoll sein, lebhaft und leise, veränderlich und dennoch von gleichbleibender Tiefe, das lernte er durch Lin Jaldati kennen, eigentlich Rebekka Brilleslijper, die er 1937 in Den Haag traf und nie mehr losließ.

Lin, die Sängerin und Tänzerin, die 1988 mit 76 Jahren starb, lebt mit ihm in dem Haus in Ziegenhals am See. Man spürt sie noch immer in den Räumen, die sie mit ihm eingerichtet hat, in den holländischen Kacheln, den Masken aus Java, in den Steinen und Muscheln aus Israel, den russischen Holzpuppen, den chinesischen Fächern, indischen Ohrringen, die sie von ihren vielen Konzertreisen mitgebracht haben, in den Bildern an den Wänden, in den Büchern und Noten im Regal. An der Wand hängt ein Bild, das sie als schöne junge Frau zeigt, zart und ernst. In ihrem Blick liegt ein Schmerz, eine Verstörung, die war noch nicht da, als er sie kennen lernte. Diesen Blick hat sie aus Auschwitz und Bergen Belsen mitgebracht. Später verlor er sich, aber manchmal, in ihren Liedern, mitten in einem Lachen war er wieder da. Eine Freundin hat dieses Bild gemalt, als Lin und Eberhard sich und ihre kleine Tochter Kathinka 1945 wiedergefunden hatten, drei Überlebende, jeder hatte seine eigene Hölle hinter sich.

Um das Bild rankt sich eine Grünpflanze, manchmal bleibt der alte Professor davor stehen und nimmt ein welkes Blatt ab. Er hat Lins Gesicht jeden Tag vor Augen, aber dazu braucht er eigentlich nicht dieses Bild. Sie war die erste Frau, die er liebte und sie blieb die einzige in seinem Leben.

In Berlin, als er jung war, gab es die Chinesin Chin-hsin, die bei Hindemith Komposition studierte, eine keusche Liebe. Sie konnten nicht einmal Hand in Hand gehen, ohne von deutschen Volksgenossen angepöbelt zu werden. Gemeinsam wurden sie Zeugen, wie das international bekannte Musikleben Berlins, das den jungen Eberhard Rebling geprägt hatte, von den Nationalsozialisten "gleichgeschaltet" wurde. Die großen Dirigenten Otto Klemperer, Bruno Walter, Leo Blech und andere wurden verjagt. Jetzt, wo die Juden aus dem Musikleben verschwanden, sei doch seine Stunde gekommen, versuchte seine Klavierlehrerin Lydia Lenz den Ehrgeiz des jungen Pianisten anzustacheln. Ehrgeizig war er, aber auch ein anständiger Mensch. Und während sein Bruder der SA beitrat, fand er eine Möglichkeit, etwas gegen den Nationalsozialismus zu tun. 1934 trat ein Genosse der illegalen kommunistischen Partei an den jungen Musikwissenschaftler heran und forderte ihn auf, geheime "Lageberichte" über das Musik- und Kulturleben in Deutschland an eine Deckadresse in Prag zu schicken. Er tat es.

Mit dem Kunsthistoriker Leo Balet zusammen schrieb er ein Buch, das 1936 in Straßburg und Leiden erschien. 1972 wurde es in Frankfurt/Main neu aufgelegt, 1986 in Dresden, 2004 erneut in Frankfurt, es ist immer noch ein Standardwerk über die Verbürgerlichung der deutschen Kunst, Literatur und Musik im 18. Jahrhundert.

1935, obwohl sein Lehrer Arnold Schering schon unter dem Druck der Nationalsozialisten stand, verteidigte Eberhard Rebling noch seine Dissertation über "Die soziologischen Grundlagen der Stilwandlung der Musik in Deutschland um die Mitte des 18. Jahrhunderts". Der junge Doktor reiste nicht sofort aus, erst bezahlte er seine Schulden für die Promotion. So ist er. Es dauerte noch bis 1936, bis er, mit zwei Koffern, einer Schreibmaschine und zehn Mark, in Den Haag ankam.

In den Niederlanden hielt sich der Emigrant und Antifaschist über Wasser als Pianist, als Klavierlehrer und mit populären Vorträgen. Bald hatte er auch einen Namen als Musikrezensent. Er fand Freunde und zog in einen Vorort von Den Haag, ins Gemeenschapshuis, eine Art früher Kommune. Er bekam das Zimmer von einem, der nach Spanien in die Internationalen Brigaden gegangen war. Die Mitbewohner waren Studenten, Künstler, Angestellte, einander verbunden durch ihre humanistische und unkonventionelle Lebenseinstellung. Einige waren Mitglieder der Kommunistischen Partei.

Als Eberhard Rebling 1937 als Pianist eine kleine Tanzkompagnie nach Java und Sumatra begleiten konnte, freuten sie sich mit ihm. Diese Reise legte die Grundlagen für ein anderes Standardwerk Eberhard Reblings, das Jahrzehnte später erschien: Die Tanzkunst Indonesiens. Nach dem Krieg reiste er noch mehrmals dorthin, mit seiner Frau, die inzwischen eine gefeierte Künstlerin war.

Als er Lin traf, damals im Gemeinschaftshaus, änderte sich sein Leben. Sein Herzschlag veränderte sich und er spielte anders Klavier, er dachte anders, seine Zurückhaltung wich einer neuen Offenheit, er war mutiger geworden und vorsichtiger. In Lins großer jüdischer Familie wurde er aufgenommen, sie rückten zusammen oder bei Familientreffen saß er neben seinem Schwager auf dem Fensterbrett, hier galt nicht das grämliche "Streitet nicht über Politik" seiner Mutter, hier wurde gestritten, gelacht, gesungen.

Solange Lin lebte, wurde auch am Tisch der Reblings in Eichwalde und später in Ziegenhals gestritten, gelacht, gesungen. Gäste waren jederzeit willkommen, wenn die Töchter oder Freunde jemanden mitbrachten, fand sich auch ein Bett für den eben noch Fremden, ein Teller sowieso.

Erst seit er über 90 ist, liebt Eberhard Rebling die Stille, in der sich seine Gedanken ausbreiten können, in der aus seinem Bechstein-Flügel Erinnerung aufsteigt.

Er ermutigte Lin, die Tänzerin, sich den jiddischen Liedern zu widmen, die sie seit ihrer Kindheit kannte. Er schrieb Noten auf, gemeinsam suchten sie vergessene Texte und Nigunim, Lieder ohne Worte. Das Konzertpublikum, zumeist unvertraut mit dem Reichtum dieser Lieder und Tänze, war begeistert. Lin hatte mit seiner Begleitung das begonnen, was man eine große Karriere nennt, aber dann kamen die Deutschen. Und doch wurde im Sommer 1941 Kathinka Anita geboren, ein Wunschkind. Ihren zweiten Namen bekam sie nach einem jüdischen Mädchen aus dem Gemeinschaftshaus, das aus Deutschland geflohen war und sich am Tag der Bomben auf Rotterdam das Leben genommen hatte.

Sie haben in ihrem Buch Sage nie, du gehst den letzten Weg beschrieben, wie sie Aufträge der Untergrundorganisation ausführten. Wie sie sich verstecken mussten, erst Eberhard, der als Wehrmachts-Deserteur gesucht wurde, dann Lin und ihre ganze Familie. Wie Eberhard mehrmals jüdische Kinder von einem Versteck ins andere brachte. Zum Schluss waren sie 15 Menschen in einem abgelegenen Haus in Huizen. Am 15. Juli 1944 umstellten holländische Greifer das Haus und holten sie aus ihren Verstecken.

Sie haben es beschrieben. Wie Eberhard, dem sein Todesurteil schon sicher war, am nächsten Morgen aus einem Polizeiwagen floh und illegal lebte. Wie es gelang, die Kinder zu retten, auch die dreijährige Kathinka, die in fremden Familien Zuflucht fand. Lin hat beschrieben, wie sie und ihre Schwester Jannie sich in den Lagern aneinander festhielten, wie sie in Bergen-Belsen mit den Schwestern Margot und Anne Frank Kartoffelschalen rösteten und Weihnachten, Sinterklaas und Chanukka gleichzeitig feierten.

Lin und Eberhard haben in ihrem Buch beschrieben, wie sie sich wiedertrafen, eine Szene, die man nie mehr vergisst. Es war Ende Mai 1945, Eberhard Rebling, der seinen richtigen Namen wieder angenommen hatte, saß in einem Haus in Oegstgeest am Flügel. Das Hauskonzert sollte nach den Monaten der Illegalität ein Dank an seine Retter sein. Der Höhepunkt war Bachs Hochzeitskantate Weichet nur, betrübte Schatten. Plötzlich hörte man ein Auto vor dem Haus. Er sprang mitten im Spiel auf, wusste nicht mehr, wie er zur Tür gestürzt war. Lin und er lagen sich in den Armen.

Eberhard wurde Mitglied der Kommunistischen Partei der Niederlande. Lin war es schon. Gemeinsam reisten sie durch Europa und Asien. 1952, da war ihre zweite Tochter ein Jahr alt, gingen sie nach Ostberlin. Eberhard wurde Chefredakteur der Zeitung Musik und Gesellschaft, 1959 Rektor der Hochschule für Musik Hanns Eisler. Seine Sache war es nicht, in den Schlachtfeldern der Zeit herumzubrüllen. Er ist ein leiser, vornehmer Mensch. Ein Mensch, sagen seine ehemaligen Studenten, wenn sie sich an ihn erinnern. Seine Feinfühligkeit und Freundlichkeit war ungewöhnlich. Manchmal ging seine Toleranz bis an die Grenze des Erträglichen. In seinem und Lins Haus fanden seine alten Eltern Aufnahme. Lin, die von der großen Familie der Brilleslijpers nur Jannie behalten hat, versuchte, sich mit den Großeltern ihrer Töchter zu arrangieren. Aber da waren Kälte und preußischer Dünkel, Argwohn der Jüdin gegenüber. Dennoch starb der preußische Major in ihrem Haus und die fast hundertjährige Mutter ging erst ins Altersheim, als Lin selbst krank wurde. Argwohn rief die Künstlerin Lin Jaldati auch bei manchen Kulturfunktionären der DDR hervor, besonders nach 1967. Jahrelang durfte sie mit den jiddischen Liedern nicht auftreten. Über diese Bitternis trösteten auch die großen Erfolge nicht hinweg, die sie noch am Schluss ihres Lebens erfuhr, gemeinsam auf der Bühne mit Eberhard Rebling und den Töchtern Kathinka und Jalda.

Aus diesem Stoff ist die Erinnerung des Eberhard Rebling. Er hat die Gelassenheit eines Menschen, der alles gesehen hat und doch durchlässig bleibt. Er weiß, dass es nicht nur auf jeden einzelnen Ton ankommt, sondern auf den Zusammenklang. Auf die Spannung. Und auf die Stille dazwischen.

Was er schreiben wollte, hat er geschrieben, Seite für Seite auf seiner Maschine getippt, das letzte Manuskript schloss er vor einem Jahr ab. Wenn er beim Zeitunglesen den Kopf wendet, sieht er Lins Bild. Hinter der Glastür den See. In den kältesten Wintern hat er Eislöcher ins Wasser geschlagen, um nach der Sauna einzutauchen. Das wird er wohl nicht mehr tun, jetzt, wo er 95 ist. Aber wenn das Eis kommt, wird er wissen: Darunter bewegt sich das Wasser.


Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Die Vielfalt feiern – den Freitag schenken. Bewegte Zeiten fordern weise Geschenke. Mit dem Freitag schenken Sie Ihren Liebsten kluge Stimmen, neue Perspektiven und offene Debatten. Und sparen dabei 30%.

Print

Für 6 oder 12 Monate
inkl. hochwertiger Weihnachtsprämie

Jetzt sichern

Digital

Mit Gutscheinen für
1, 6 oder 12 Monate

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden