Der schwarze Krach der Lokomotive

Kunstrevolte Vor 100 Jahren veröffentlichte Marinetti das Futuristische Manifest und bereitete damit dem Faschismus den Weg

Mit einem Bild der trostlosen Realität des Schreibens beginnt ein Text, der in die Annalen der Kulturgeschichte eingegangen ist. „Wir haben die ganze Nacht gewacht – meine Freunde und ich – ... und viel Papier mit irren Schreibereien geschwärzt.“ So lautet der Anfang von Filippo Tommaso Marinettis Manifest des Futurismus, das vor 100 Jahren, am 20. Februar 1909, in der Pariser Tageszeitung Figaro erschien. Nicht irgendwo im Blatt versteckt, sondern auf der Titelseite der bedeutendsten Zeitung Frankreichs prangten Marinettis Worte .

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Die „démentes écricutures“, die irren Schreibereien, dienten dem Autor als rhetorischer Kniff, um nach der anfänglichen Abwertung einen maximalen Kontrast aufzubauen. Denn was Marinetti der Welt mitzuteilen hatte, das strotzte nur so vor Selbstvertrauen. Voller Emphase, in eingängigen Schlagworten und martialischer Sprache formuliert, in Imperativen und Superlativen, gespickt mit rhetorischen Stilmitteln wie Hyperbeln, Anaphern und Aufzählungen bediente Marinetti die ganze Klaviatur der Überzeugungsrhetorik, um seine Idee einer einzig richtigen, zeitgemäßen Kunst vorzustellen, die ihre Zukunftsfähigkeit im Namen trägt.

Das Manifest beschreibt zunächst eine rasante Autofahrt, die im Straßengraben endet. In Analogie zur christlichen Taufe verhilft das Bad im Dreck zur grundlegenden Erkenntnis, festgehalten in elf Postulaten. Der bestehende Kulturbetrieb wird scharf verurteilt. Maschinen seien die Sujets einer neu zu schaffenden Dichtung. „Ein aufheulendes Auto ... ist schöner als die Nike von Samothrake.“ Gepriesen sei der Krieg, „diese einzige Hygiene der Welt“. Das Manifest rät vom Betrachten alter Bilder ab, wie überhaupt alles Vergangene schädlich sei. „Legt Feuer an die Regale der Bibliotheken … Kunst kann nur Heftigkeit, Grausamkeit und Ungerechtigkeit sein.“

Die von Friedrich Nietzsche und George Sorel inspirierte Gewaltverherrlichung provoziert, – erst Recht mit dem Wissen um die Tragödie der Weltkriege, des Faschismus und Totalitarismus. Dabei erzeugte die Veröffentlichung keineswegs den Paukenschlag, den Marinetti herbeizuschreiben versucht hatte. Auch dass der Text auf dem Titel des Figaro erschien, lässt nicht auf eine herausragende Bedeutung des Autors schließen. Seit den 1880er Jahren hatte der Figaro Manifeste von Literaten gedruckt. Zwar half ein gewisser Bekanntheitsgrad des Autors, aber für die Veröffentlichung hatte Marinetti bezahlen und Kürzungen verschmerzen müssen.

Zeitgleich war das Manifest anderen europäischen Zeitungen zugegangen, es erschienen jedoch nur kurze Hinweise. „Was hat F. T. Marinetti nicht alles getan, um das italienische Publikum zu erleuchten? Berge von Büchern wurden als Geschenke versandt; apologetische Artikel in Pariser Zeitungen … Aber das italienische Publikum hat einfach nicht verstehen wollen“, spottete die italienische La Stampa.

Propagandist seiner selbst

Bereits mit dem fiktiven „Wir“ im Manifest hatte Marinetti das Vorhandensein einer Gruppe vorgetäuscht. Der Futurismus mobilisiere die Massen, ein Mythos, den Marinetti so sorgsam pflegte, dass bis heute der falsche Eindruck eines durchschlagenden Erfolges kursiert. Der Kopf des Futurismus war ein geschickter und unermüdlicher Propagandist. Der Artikel im Figaro bildete nur einen Teil einer umfangreichen Werbekampagne mit Flugblättern, Plakaten, einer Zeitschrift, Soiréen in Marinettis Wohnungen in Paris und Mailand sowie öffentlichen Auftritten: „F. T. Marinetti tritt nach vorn, kühn und kahl. Die Zukunft des Futurismus hat keine Haare auf dem Kopf.“ Zwar ist im Corriere della Sera der Spott unüberhörbar, aber er zollt Marinettis Beharrlichkeit auch Respekt. „F. T. Marinetti fährt fort, während der Beifall sich hier und da in Pfeifen verwandelt … Man pfeift wie man klatscht: um Krach zu machen.“ Lautstark untermalte das Publikum Marinettis „Wir werden die Lokomotiven unserer Phantasie losjagen“ durch das Nachahmen Tausender abfahrender Züge. Immerhin ließ die zu erwartende Gaudi allmählich die Menge strömen, wenn der Futurist in Venedig ins Teatro Fenice, in Mailand ins Teatro Lirico und überall in Italien und Europa in die Säle lud.

Als Kind italienischer Eltern 1876 in Ägypten geboren, war der Erfinder des Futurismus nach Aussagen eines Freundes offenbar dessen perfekte Verkörperung: „ein gutaussehender Mann mit regelmäßigen und markanten Gesichtszügen und kräftiger Stimme mit einigen exotischen Färbungen, sturzbachartigem Redefluss und katzenartigen Bewegungen“. Marinettis Selbstzeugnissen zufolge war es der Vater, dem er die „große Willenskraft des Herrenmenschen“ verdankte. Im Übrigen auch das Geld. Der wohlhabende Jurist setzte durch, dass der Sohn ebenfalls in Italien Jura studierte. Trotzdem hielt Marinetti an seinem Pariser Wohnsitz und den bereits als Schüler begonnenen literarischen Ambitionen fest. Nach der Veröffentlichung im Figaro verlagerte sich Marinettis Aufmerksamkeit verstärkt nach Italien. Die politische Einheit des Landes ließ die Hoffnung aufkeimen, der Futurismus könne das neue Italien repräsentieren.

Tatsächlich fand in Mailand ein Jahr später die folgenreiche Begegnung mit dem Maler Umberto Boccioni statt, durch den auch Gino Severini und Carlo Carra für den Futurismus zu gewinnen waren. Luigi Russolo und Giacomo Balla stießen ebenfalls hinzu. Mehr als Marinettis Auftritte und Veröffentlichungen waren es die Gemälde, die dem Futurismus das bis heute bekannte Gesicht gaben, vor allem jene Werke der Jahre 1911 und 1912, die nach Kenntnis des französischen Kubismus entstanden waren. Sie setzten um, was Marinetti 1909 gedacht und gemeinsam mit den Malern 1910 im Manifest futuristischer Malerei konkretisiert hatte.

Bekenntnis zum Faschismus

Boccionis Bilder zeigen großstädtische Sujets, deren Gegenständlichkeit in den Strudel rasanter perspektivischer Wechsel gerät. Unregelmäßige geometrische Formen mit scharfen Ecken und Kanten zerschneiden den Raum, Überlagerungen und endlose Multiplikationen ziehen den Betrachter tief ins Bild hinein. Lichtstrahlen brennen Blitze in das Gewühl. Kontrastreiche, leuchtende Farben verstärken die enorme Wirkung der futuristischen Malerei jener Jahre, die in Paris, London, Berlin, Brüssel und später New York für Furore sorgte. Noch 1925 schrieb Kurt Tucholsky in der Weltbühne begeistert von seiner Begegnung mit diesen Bildern: „Ich besinne mich, wie ich den ersten Schwinger in den Magen bekam: Gino Severinis ‚Pan-Pan-Tanz‘ hing in Berlin, und mir wurde rot und grün vor den Augen, das Bild drehte sich, ich tanzte. Und das wollte es ja auch.“

Der Erfolg war immer wieder Marinettis Elan zuzuschreiben. Als die Ausstellung im Berliner Kunstsalon von Herwarth Walden schleppend anlief, fuhr Marinetti im Cabriolet über die Friedrichstraße und schleuderte mit dem Ruf „Es lebe der Futurismus“ Flugblätter in die Menge. Ein paar Tage später war die Ausstellung ausverkauft.

Insgesamt verfasste Marinetti an die 20 Manifeste zu allen Künsten, Theater, Plastik, Fotografie bis hin zur Mode. Auch in Portugal, England und Russland entstanden entsprechende Manifeste. Im Namen des Futurismus stellte Wladimir Tatlin seine Eck-Konter-Reliefs, Kasimir Malewitsch die suprematistischen Bilder aus. So radikal hatte Marinetti das seit dem 16. Jahrhundert bekannte künstlerische Manifest als Aufruf zur unmittelbaren gesellschaftlichen Veränderung umgeformt, dass es für alle nachfolgenden Avantgarden wegweisend wirkte. Insbesondere die gewaltvolle Sprache und Rhetorik fanden ihre Nachahmer, und sei es als Persiflage wie bei Kurt Schwitters „i (Ein Manifest)“.

Dabei war es vor allem die zweite Phase des Futurismus nach dem Ersten Weltkrieg, die Marinettis Bekanntheitsgrad festigte. Das lässt sich Marinettis faschistischer Überzeugung und Freundschaft mit Benito Mussolini zuschreiben. 1919 kandidierten beide zunächst erfolglos auf einer gemeinsamen Liste. Als Mussolini 1922 an die Macht kam, forderte Marinetti, dem langsam das elterliche Geld ausging und dessen Vision einer „futuristischen Artekratie“ die gesellschaftliche Realität verfehlte, einen Anteil daran, habe der Futurismus dem Faschismus doch ideologisch den Weg geebnet. Der Duce verlieh Marinetti 1924 kulturpolitische Ämter, seinen Wunsch nach einer Inthronisierung des Futurismus als faschistische Staatskunst lehnte er ab. Der italienische Faschismus blieb künstlerisch pluralistisch und förderte neben dem Futurismus die traditionelle akademische Malerei und vor allem den Novecento. Bis 1942 waren die Futuristen auf der Biennale von Venedig präsent, allerdings in einem vom Hauptpavillon separierten Bereich.

Die relative Marginalisierung hinderte Marinetti jedoch nicht daran, im nationalsozialistischen Deutschland die futuristische Kunst als die faschistische Staatskunst zu präsentieren. 1934 nahm Marinetti eine Ausstellung futuristischer Kunst in Berlin zum Anlass für diese Darstellung. Die Allianz von künstlerischer Avantgarde und Faschismus schien zum damaligen Zeitpunkt auch in Deutschland noch möglich. Debatten darüber, was denn die „wahre deutsche Kunst“ sei, hatten seit der Jahrhundertwende die Gemüter erhitzt und wurden auch von den Nationalsozialisten nicht unmittelbar nach der Machtübernahme entschieden, sondern weiter kontrovers diskutiert. Dass viele Moderne, mitunter sogar jene, die wie Oskar Schlemmer bereits 1930 unter der Thüringer NS-Kulturpolitik zu leiden hatten, sowie Otto Dix, Ernst Ludwig Kirchner oder Karl Hofer, deren Werke später als „entartet“ galten, anfangs auf den Nationalsozialismus als Förderer ihrer Kunst setzten, ist in der historischen Fachliteratur bereits seit Mitte der 1980er Jahre Thema, aber längst nicht in alle Ausstellungskataloge und Feuilletons vorgedrungen.

Bei Emil Nolde oder Gottfried Benn ist die Parteinahme für die Nazis allgemein bekannt, gilt jedoch immer noch als Ausnahmeerscheinung. Seiner Hoffnung auf eine Allianz von Moderne und Faschismus verlieh Gottfried Benn Ausdruck, als er 1934 die Futuristenausstellung eröffnete und die Durchschlagskraft von Marinettis Manifest pries: „In Ihrem Namen wurde alles erkämpft, was Sie im neuen Deutschland um sich sehen.“ In Joseph Goebbels, der neben Hermann Göring auch die Futurismusausstellung protegierte, besaß der Expressionismus einen einflussreichen Fürsprecher. Aber es gab heftigen Gegenwind seitens des „Kampfbundes für deutsche Kultur“ von Alfred Rosenberg, der nur eine stilistisch auf das 19. Jahrhundert zurückgreifende Heimatkunst mit völkischen Inhalten als wahrhaft deutsch anerkannte.

Gegner wie Anhänger des Futurismus im nationalsozialistischen Lager konnten in Marinettis Manifest Argumente für ihre Position finden. Die Verherrlichung des Krieges, die „Kulturhygiene“, aber auch Sätze wie „Was gehen uns die Frauen an, die Häuslichen, die Invaliden, die Kranken“ entsprachen der nationalsozialistischen Ideologie. Gleichzeitig entdeckten die Gegner der Moderne ihre Munition gegen den Futurismus, denn Marinetti war neben dem revolutionären Impetus der Bruch mit aller Tradition und die Verachtung der Väter einfach nachzuweisen.

Worin aber beide Seiten mit Marinetti übereinstimmten, war die Forderung der totalitären Durchsetzung einer einzigen Richtung als Staatskunst. So wie Marinetti bereits 1934 den Futurismus fälschlich als alleinige Kunst des faschistischen Italiens präsentierte, fanden die Nationalsozialisten in Deutschland endgültig im Jahr 1937 in München im Haus der Kunst zu ihrer Staatskunst und brandmarkten die Moderne ein paar Häuser weiter als „entartet“.

Dass der Expressionismus vom Nationalsozialismus verstoßen wurde, hat nach 1945 seine grandiose Rückkehr in die Museen in Deutschland erleichtert. Vor lauter Eifer ging dabei das Sympathisieren mit dem Nationalsozialismus lange unter. Der Futurismus konnte dagegen weder in Italien noch in Deutschland so einfach rehabilitiert werden. Hierzulande tut man sich naturgemäß schwer mit einer den Faschismus unterstützenden und von ihm geförderten Spielart der Moderne. Trotzdem waren dem Futurismus drei größere Ausstellungen gewidmet. Im Jubiläumsjahr muss man dafür allerdings nach Italien oder London fahren.

Regine Reinhardt, geboren 1968, lebt als freiberufliche Kunsthistorikerin und Journalistin in Berlin, bei Hamburg und in Irland

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