Leben und Schreiben in Berlin

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Ein schönes, tiefes Blau lag über der Stadt. Zwei Männer mittleren Alters verlassen ein Haus mit einer verdächtigen Wohnung. Sie machen sich auf den Weg vom Agententreffen nach Hause. Die beiden Männer schreiben für Gerichtsshows. Sie fahren demonstrativ mit der U-Bahn. Am Rosenthaler Platz erreichten sie wieder das Tageslicht. An einem Laternenmast klebt ein Zettel, auf dem steht: BEWARE ARTISTS WATCH. Die beiden Männer schütteln die Köpfe. Dann stiegen sie in die Tram wie in eine falsche Hoffnung. Sie schauen schräg, überlassen sich einem suspekten Schweigen und stiegen am Zionskirchplatz wieder aus.

Es gibt ja nicht nur ein Paralleluniversum, sondern unendlich viele. Auf dem Gehsteig der Zionskirchstraße steht eine Schüssel mit Roter Grütze. Einer der beiden Männer, er hieß Martin, flüsterte dem anderen zu, dass nur 5% des Lebens literarisch interessant seien, und der andere sagte nichts, dachte aber: "Stimmt nicht, das Gegenteil ist der Fall. Nur 5 % des Lebens ist nicht von literarischem Interesse, oder wie die französische Autorin Christine Angot meint, nicht die Bücher, sondern die Leben der Schreibenden sind wichtig. Man muss lernen, realistisch zu denken, man muss lernen, realistisch zu fühlen. Was ja meist ein und dasselbe ist. Die Kunst wäre, die 95 % so zu übertragen, so zu beschreiben, dass es eben nicht trivial, langweilig, gewöhnlich ist. Die Kunst wäre, eine banale Szenerie so zu beschreiben, dass sie aus ihrer Banalität herausgehoben wird."

Auslaufrillen. Ein Teelicht für die Seele. Die beiden Männer betreten eine andere verdächtige Wohnung. Wenig später sitzt Martin auf einem violetten Plüschsofa und schaut zufrieden auf eine sich drehende Langspielplatte, der Abtransport des Sentiments auf Schallspuren, Tonrillen. "Ich kann mich an mehr aufregende Schallplatten erinnern als an aufregende Ereignisse", sagt Martin. "Wie stelle ich meinen MP3-Spieler zusammen, wenn ich in Urlaub fahre? Nehme ich meine Probleme und breite sie in der Sonne aus, dass sie auch richtigen Sonnenbrand bekommen?" Lonely Planet. Gute Laune wird überbewertet. Der andere Mann, er hieß Fabian, erzählte, dass es inzwischen nicht nur Nudistenstrände und Nudistendörfer, sondern auch Nudistenflieger gäbe. Gibt es auch Nudistenflughäfen?

Martins Wohnung ist kugelsicher. Ein Fernseher flimmerte. Die Möbel hatte er sich im Fundus zusammengekauft, damals, als der Sender Finanzengpässe hatte. Eine gewisse Patina war nicht zu übersehen. Fabian überlegt, ob die Bücher in den Regalen Attrappen sind, traut sich aber nicht, eins davon herauszuziehen. Im Bad läuft ein Wasserhahn, in der Küche ein Transistorradio, hier im Wohnzimmer die Stereoanlage. "Es darf niemals still sein", erklärt Martin. Während er Wein einschenkt, beschäftigen ihn andere Probleme: "Warum zieht Hechtsuppe? Wozu haben Männer Brustwarzen? Sind sie einst Frauen gewesen?" Fabian zuckt mit den Achseln. Dann Themenwechsel: Zurück zum Fernsehen. Fabian hat überlegt, ob er sich nach der Anschaffung eines DVD-Spielers die gesamten vorhandenen Staffeln von "Scrubbs" ausleihen solle. Um hinter das Rätsel seiner Faszination für Sitcoms zu kommen. Stimmt der Satz noch: "Sitcoms retten Leben?" Ist es die Schlagfertigkeit, der Lawineneffekt eines einmal losgetretenen Scherzes, die Gnadenlosigkeit des sozialen Umgangs? Die absolute Ehrlichkeit? Ich schreibe für das falsche Format. Am Ende will ich nichts anderes schreiben als eine Sitcom, sagte er in Martins ratloses Gesicht.

Unten auf der Zionskirchstraße hat jemand die Schüssel umgetreten. Drei gefärbte Frauen verlassen ein Sonnenstudio. Ein junges Pärchen unterhält sich über Dickschiffe und Marginalisierungsstrategien. Allmählich wird es Abend, und die beiden Männer beginnen, sich einsam zu fühlen. Vielleicht liegt es an der Musik der Tindersticks, die nicht umsonst als wehmütig gilt. Vielleicht an der Sinnlosigkeit eines Lebens in Sälen. Und ohne Liebe. Martin erzählte von einer Lektüre, von einem Paar beim Picknick. Die Frau will spielen und versteckt sich im Wald, der Mann aber bleibt sitzen und grübelt, was denn dran sei am Wald. Fabian grinst und fragte: "Ist das so?" "Ja, das ist oft so", antwortete Martin.


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