Martha hat sich noch ein Bier bestellt

Kehrseite I Martha hat sich noch ein Bier bestellt, sie kennt nicht viele der Leute hier, aber sie erkennt ein Gesicht und strahlt es an. Es ist nicht ihre ...

Martha hat sich noch ein Bier bestellt, sie kennt nicht viele der Leute hier, aber sie erkennt ein Gesicht und strahlt es an. Es ist nicht ihre Stadt, es ist nicht ihr Konzert, es ist das ihrer Schwester. Martha nimmt das Bier in die linke Hand. Für Musik hat sie sich nie weiter interessiert, Musik war einfach da, wurde von ihrer Schwester ins Haus gebracht, wurde von ihren Freunden gehört, wurde im Autoradio gespielt. Gelegentlich gefielen ihr Stücke und sie merkte sich die Interpreten. Dann fuhr sie in die Innenstadt und kaufte sich eine CD, die sie dreimal durchhörte, bevor sie weggelegt wurde und vergessen. Martha hat sich nie für Kunst interessiert, nie für Literatur, sie mochte Filme, die leicht waren und lustig, sah sich Komödien im Fernsehen an, kurzzeitig konnte eine Serie sie fesseln, aber das war es nicht. Sie war fleißig, sie richtete ihre Energie auf ein Ziel, die Schule, das Studium, und ihre Liebe auf die Männer. Und sie wunderte sich, dass sie an der Universität sehr lange brauchte, sie wunderte sich, immer noch nicht den Mann gefunden zu haben, der für sie passend schien.

Jetzt hält Martha das Bier in der rechten Hand, nippt daran, schenkt jemandem ein Lächeln. Jetzt knüpft sie Bande, schaut auf die Bühne, auf der Menschen erscheinen, jetzt unterhält sie sich. Sie bemüht sich, ihren Akzent zu unterdrücken, lässt sich gehen, fühlt sich frei, das ist sie auch. Es ist kein bemühtes Plaudern nötig, damit klar wird, wie die Vibrationen stehen, tatsächlich läuft weniger ein Spiel als eine Entscheidung, die sich auf Grundsätzliches bezieht und nur für den Augenblick wirksam ist. Diese Entscheidung trägt sie durch den Abend.

Jetzt umarmt sie ihre Schwester, jetzt ist das Bier getrunken, jetzt läuft sie in einer Gruppe vom Ort des Konzerts weg. Jetzt sitzt sie auf einer Party mit lauter unbekannten Leuten, jetzt teilt sie sich einen Stuhl und trinkt ein weiteres Bier. Jetzt hört sie sich Geschichten an, Abläufe, ein ganzes Leben. Jetzt wird die Gruppe kleiner, als die Party langweilig wird, jetzt ist sie fast allein auf dem Weg in eine Bar, jetzt äußert sie sich. Jetzt wartet sie ab, jetzt hört sie ein Angebot. Jetzt sitzt sie in einem Taxi, jetzt steht sie in einer Wohnung und sieht ein Bücherregal, das sie erschreckend findet. Jetzt fühlt sie eine fremde Zunge im Mund, jetzt bewegt sie ihre Lippen nicht. Jetzt nimmt sie ihre Kontaktlinsen heraus und erhält ein Schnapsglas, in das sie Wasser füllt und die Kontaktlinsen steckt. Jetzt bekommt sie ein T-Shirt, jetzt streift sie es im Bad über, jetzt kommt sie ins Zimmer zurück. Ihre Finger bewegen sich, jetzt bewegen sich ihre Lippen, jetzt fühlt sie Haut, einen Arm, jetzt fühlt sie sich wohl.

Sie reibt, sie liegt. Ihre Beine sind weich. Ihre Arme halten warm und sicher. Ihre Warzen sind steinhart. Morgen wird sie wach werden, sich wundern, etwas reden, morgen wird sie näher kommen, ihren Arm ausstrecken, morgen wird sie noch einmal einschlafen. Morgen wird sie die Lippen geschlossen halten, in einer Küche sitzen, einen Kaffee trinken, frühstücken. Morgen wird sie auf eine Uhrzeit achten, die Jacke überziehen, eine Tür aufmachen, einen Rückblick im Treppenhaus riskieren.

Martha öffnet die Lippen nicht. Sie verlässt die Wohnung und stellt eine Frage. Sie schreibt einen Zettel mit ihrer Telefonnummer, wird aber nie einen Anruf erhalten. Sie erhält eine Antwort, spürt eine Distanz, die sie nicht erklären kann, auch die abgespulten Worte nutzen nichts, der Kopf ist müde, die Unterhaltung schwebt am Wesentlichen vorbei. Sie überlegt. Sie kann woanders hin, in eine andere Wohnung, nicht zu ihrer Schwester zurück. Sie kann bleiben. Sie ist unschlüssig. Sie weiß, dass es die letzte Nacht sein wird, bevor sie zurückfährt, am Abend möchte sie ein Bier trinken, ausgehen, ein wenig von der Stadt mitbekommen, ein wenig Nähe.

Sie dreht sich um. Sie fühlt zwei Arme auf dem Rücken, zwei Hände auf dem Hintern, zwei Zungen im Mund.

René Hamann wurde 1971 in Solingen geboren. Er lebt und arbeitet in Berlin. Zu seinen Veröffentlichungen zählen zwei Gedichtbände und ein Band mit Kurzgeschichten.


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