1974 Das Sparwasser-Tor besiegelt die Niederlage der DFB-Auswahl im Spiel gegen die DDR. Beckenbauers Team muss sich schwere Vorwürfe anhören und holt dann doch den WM-Titel
So einen Treffer wird man bei der kommenden Fußball-WM in Brasilien wohl kaum sehen. Das Sparwasser-Tor vom 22. Juni 1974 – es bescherte der DDR beim Championat von 1974 im Hamburger Volksparkstadion ein 1:0 gegen die Equipe des Deutschen Fußball- Bunds (DFB) – kam auf eine Weise zustande, die heute, in Zeiten des aggressiven Pressings, kaum denkbar erscheint. Als in der zweiten Halbzeit der kurz zuvor eingewechselte Erich Hamann von Torwart Jürgen Croy den Ball zugeworfen bekam, konnte er auf der rechten Seite in aller Ruhe marschieren, ohne dass ihn jemand angriff. Auch als er die Mittellinie bereits gut zehn Meter überschritten hatte, machte kein Akteur im schwarz-weißen Dress Anstalten, ihm das Spielgerät abzunehmen. Also blickte Hamann kurz au
auf, schlug einen hohen Diagonalball Richtung Strafraum und erreichte den Magdeburger Stürmer Jürgen Sparwasser.Was danach passierte, hat Heinz Florian Oertel als Kommentator des DDR-Fernsehens in geradezu buchhalterischem Ton beschrieben: „Sparwasser, Sparwasser, und … Tor!“ Während heute Reporter schon ausrasten können, wenn in einem müden Zweitligakick ein nicht sonderlich spektakulärer Treffer fällt, blieb Oertel in diesem vermeintlich historischen Moment tendenziell sachlich. „Hier, schauen Sie, unsere Touristen“, sagte er lapidar, als jubelnde DDR-Anhänger ins Bild kamen. Ein bisschen Subjektivität leistete er sich immerhin beim Einspiel der Wiederholung. „Eine meisterliche Aktion“ sei das gewesen.Das stimmte – zum Teil, da auch etwas Glück nachhelfen sollte. Nur weil der herabfallende Ball nach Hamanns Pass so aufsprang, dass Sparwasser das Zuspiel auf die Nase bekam, änderte sich die Richtung des Balls derart, dass die bundesdeutschen Abwehrspieler hilflos aussahen. Die entschlossene Coolness, mit der Sparwasser seine Chance dann nutzte, war in der Tat beeindruckend.Die „Touristen“, wie sie Heinz Florian Oertel der damaligen offiziellen DDR-Sprachregelung gemäß nannte, ließen ihre Begeisterung nicht überkochen. Zweimal bis dreimal stimmten sie ein „7-8-9-10-klasse“ an, um dann aber keine zwei Minuten nach dem Sparwasser-Tor zu singen, was in keinem Drehbuch stand und im Volksparkstadion nur mit vereinzelten Pfiffen quittiert wurde: „Wo bleibt denn das 2:0?“ Man durfte die Frage durchaus als spöttische Antwort auf die Bild-Zeitung deuten, die am Tag des Spiels mit der Schlagzeile Warum wir heute gewinnen werden! aufgemacht hatte. Die Fans der DFB-Elf mögen die „Ja, wir san mim Radl da“-Variation aus ostdeutschem Munde als übermütig empfunden haben. Streng genommen traf das nicht zu. Die DDR hatte sich zwar erstmals für eine Fußball-WM qualifiziert, aber die Leistung der von Cheftrainer Georg Buschner geführten Mannschaft im ersten und einzigen A-Länderspiel gegen den westdeutschen Gegner war keineswegs eine Sensation. Sechs Wochen vor dem 1:0 in Hamburg hatte der 1. FC Magdeburg durch einen 2:0-Erfolg gegen den AC Mailand den Europacup der Pokalsieger gewonnen – es sollte der einzige Cup-Erfolg eines DDR-Klubs auf europäischer Ebene bleiben. Lok Leipzig hatte sich im gleichen Jahr bis ins Halbfinale des UEFA Cup gespielt. Und im Wettbewerb der Landesmeister, dem Vorläufer der heutigen Champions League, war der FC Bayern, der sechs Spieler der in Hamburg auflaufenden Elf stellte, gegen Dynamo Dresden gerade so weitergekommen.Der DDR-Fußball war 1974 stärker, als es die Experten der Bild wahrhaben wollten, deren „Warum wir heute gewinnen“-Prognose auf einem Vergleich zwischen einzelnen Spielern basierte. Auch die Illustrierte Stern hatte kaum die damaligen Erfolge des ostdeutschen Vereinsfußballs im Blick, als sie nach der Niederlage auf „ihre“ Mannschaft schimpfte: „Weil sie im Grunde gar keine ,Truppe‘ sind mit Korpsgeist und weil sie fast ausschließlich materiell motiviert sind, weil es sich bei ihrer Zweckgemeinschaft um ein temporäres Syndikat zum Zwecke der Gewinn-Maximierung handelt, deshalb stürzten sie so bodenlos ab.“Diese krude Mischung aus Anklage, in Hamburg seien Vaterlandsverräter aufgelaufen, und Systemkritik ließ darauf schließen, dass man den Spielern weniger die sportliche Niederlage vorwarf, denn der Ausgang des Spiels war für das WM-Turnier nur bedingt relevant. Schon vor dem Anpfiff stand fest, dass beide Mannschaften die Gruppenphase überstanden hatten. Was offenbar Anstoß erregte, war die mangelnde Tauglichkeit der Spieler, Akteure im Kalten Krieg zu sein. Der fand sich seinerzeit zwischen beiden deutschen Staaten dadurch belebt, dass sich Wochen zuvor herausgestellt hatte: Günter Guillaume war nicht nur persönlicher Referent Willy Brandts, sondern auch Agent des Ministeriums für Staatssicherheit. Der SPD-Kanzler war wegen dieser Affäre zurückgetreten und von Helmut Schmidt beerbt worden. Nun also saß der neue Regierungschef der Bonner Republik, den Fußball schon als Hamburger Senator nur mäßig begeistert hatte, beim „Heimspiel“ im Volkspark pflichtgemäß auf der Tribüne.Dass Willy Brandt aufgab, dürfte eine Genugtuung für Franz Beckenbauer, den Kapitän der DFB-Elf, gewesen sein. 1972 hatte der geäußert: „Unter Kanzler Willy Brandt drohen in der Bundesrepublik Verhältnisse, wie sie in der DDR schon herrschen.“ Die Aussage war alles andere als atypisch für die politische Haltung damaliger Fußballstars. Beckenbauer, der in seinen Statements den Hang zur Kindsköpfigkeit bis heute kultiviert hat, war denn auch einer der großen Gewinner der Niederlage gegen die DDR. Während der Kontroversen nach dem Spiel, die als „Nacht von Malente“ mythologisiert wurden, riss er die Macht im Team an sich und drängte Trainer Helmut Schön zu Umstellungen, die sich dann auszahlen sollten. Abgesehen davon, dass zum Weltmeistertitel der bundesdeutschen Mannschaft auch Jürgen Sparwasser seinen Teil beigetragen hatte: Dank der Niederlage war Schöns Team in einer sportlich leichteren Zwischenrundengruppe gelandet.Die politische Dimension der WM 1974 ging freilich über das Duell zwischen zwei deutschen Nationalmannschaften weit hinaus. Schließlich hatte es den Oktober 1973 gegeben, als sich die Sowjetunion weigerte, zu einem WM-Qualifikationsspiel im Nationalstadion von Santiago de Chile anzutreten. General Augusto Pinochet hatte sich einen Monat zuvor an die Macht geputscht, seine Junta in jenem Stadion politische Gefangene foltern und erschießen lassen. Die WM-Kommission des Weltfußballverbands Fifa schloss die UdSSR daraufhin von der Endrunde 1974 aus. Befürchtungen, Bulgarien, Polen und die DDR würden als Verbündete der Sowjets das WM-Turnier in der Bundesrepublik ebenfalls boykottieren, standen im Raum. Zwar sollte es zu solcherart Verweigerung nicht kommen, aber die Lage verkomplizierte sich, als feststand, dass die DDR in einem Gruppenspiel gegen Chile antreten musste. Und das auch noch in Westberlin. Der Ostblock mied die Teilstadt bei Sportveranstaltungen, wenn es dafür westdeutsche Ausrichter gab. Nach dem Viermächteabkommen von 1971 war Westberlin kein Teil der Bundesrepublik und konnte es demnach sportorganisatorisch ebenfalls nicht sein. Wenn das Spiel zwischen der Buschner-Elf und Chile dennoch zustande kam, war dies dem Willen der DDR geschuldet, bei dieser WM präsent zu sein, wenn man sich schon qualifiziert hatte. Doch resultierte daraus keinerlei sportpolitische Entspannung. Schon 1975 boykottierten alle sozialistischen Staaten die internationale „Gymnaestrada“ in Westberlin.Jürgen Sparwasser hat übrigens später oft betont, dass jener Treffer in Hamburg, der nach ihm benannt ist, keineswegs sein wichtigster war. Der gelang ihm vielmehr mit dem 2:1, das er Wochen zuvor für Magdeburg im Halbfinale des Europapokals gegen Sporting Lissabon erzielt hatte. Wäre dieses Tor nicht gefallen, hätte niemals ein DDR-Klub den Europapokal geholt.
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