Wenn Henri Nannen, der langjährige, 1996 verstorbene Chefredakteur des Stern, gewürdigt wird, fehlt fast nie die Information, er habe die Zeitschrift „erfunden“. Tatsächlich aber konnte von der Geburt eines neuen Titels nicht die Rede sein, als am 1. August 1948 die erste Ausgabe von Nannens Stern auf den Markt kam. Das Grundkonzept des damals in Hannover beheimateten Magazins, dessen erste Ausgabe auf dem Cover Hildegard Knef mit niedergeschlagenen Lidern zeigte, stammt vielmehr von einer Film- und Kulturillustrierten, die zwischen September 1938 und September 1939 erschien und ebenfalls Stern hieß. Dieses „Markenkapital“ aus braunen Tagen war Ende der 1940er und Anfang der 1950er Jahre die Basis für Nannens Erfolg im Wettbewerb mit mehr als 30 Illustrierten.
Diese These vertritt der Kulturwissenschaftler Tim Tolsdorff in dem auf einer Dissertation beruhenden Buch Von der Stern-Schnuppe zum Fix-Stern. Zwei deutsche Illustrierte und ihre gemeinsame Geschichte vor und nach 1945. Vor allem mit der von weiblichen Stars geprägten Titelseite knüpfte der zweite Stern an den ersten an, auch bei mehreren Rubriken, etwa den „Sternschnuppen“, ließen sich Nannens Leute vom Vorläufer inspirieren. Der erste Stern erschien im ehemaligen Ullstein-Verlag, der ab 1937 als Deutscher Verlag firmierte, und er verkaufte in seinen besten Zeiten bis zu 750.000 Exemplare – ungefähr so viel wie der Stern von heute.
Ehemalige Funktionsträger
Vordergründig waren Zeitschriften und Illustrierte wie der „Ur-Stern“ unpolitisch. Aber sie erfüllten eben, laut Tolsdorff, die Funktion, „das süße Gift der Integrationspropaganda weitgehend unbemerkt unter den Leser zu bringen“, sie sollten die Leserschaft auf Umwegen überzeugen, nicht mittels platter Indoktrination. Heute hat das Wort Integrationspropaganda eine andere Bedeutung, es ist ein Kampfbegriff von Einwanderungsgegnern geworden.
1940, im Zeichen des Kriegs, wurde der Stern zu Erika – die frohe Zeitung für Front und Heimat, ein wahrhaft sprechender Titel, ihr Chefredakteur war Kurt Zentner. Er bekleidete diese Position interimsweise auch für einige Monate bei Nannens Stern – und war somit eine der Schlüsselfiguren für den Erfolg der wiedergeborenen Zeitschrift. Mindestens ebenso wichtig war laut Tim Tolsdorff der Verlagsmanager und Ex-SA-Mann Carl Jödicke, der in seinem Entnazifizierungsverfahren die Urheberschaft für die Erfindung des Stern für sich reklamierte.
Jödicke spielte vor allem deshalb eine entscheidende Rolle, weil er als Ullstein-Insider wusste, dass sein alter Verlag, dessen jüdische Besitzer während der NS-Diktatur ins Ausland flohen, sich den Titel Stern nicht hatte patentieren lassen. In diesem Sinne basiert der Stern von 1948 und später aus gestohlenem „Markenkapital“.
Von der Stern-Schnuppe zum Fix-Stern. Zwei deutsche Illustrierte und ihre gemeinsame Geschichte vor und nach 1945 Tim Tolsdorff Herbert von Halem Verlag 2014, 564 S., 34 €
Nicht zuletzt profitierten Nannen und seine Leute davon, dass die britischen Besatzer den alten Stern nicht kannten – eine der vielen Schwächen des Lizenzierungs- und Pressekontrollsystems in der britischen Zone, denen sich Tolsdorff in verdienstvollem Umfang widmet. Dass in den Redaktionen der jungen Bundesrepublik ehemalige Funktionsträger der NS-Elite, sei es aus dem Geheimdienstmilieu oder dem Propagandagewerbe, tätig waren, ist bekannt. Tolsdorff stellt in seinem Buch eine andere Kontinuität heraus: Der Stern sei „die einzige publizistische Marke, die die Zeitenwende des Sommers 1945 unter gleichem Namen überdauerte und ihre Ausstrahlung als Lesermagnet in der jungen Bundesrepublik noch übertraf“. Aufschlussreich in diesem Zusammenhang eine generelle Einordnung des Autors: „Konzeptionelle Anknüpfungspunkte für Nachkriegszeitschriften“ seien „eher im NS-Regime vor dem Krieg als am Ende der Weimarer Republik zu suchen“.
In den ersten vier Jahren des zweiten Stern waren noch Überbleibsel der NS-Ideologie sichtbar. Henri Nannen forderte zum Beispiel 1952: „Hinaus aus Deutschland mit dem Schuft.“ Gemeint war der österreichisch-jüdische Journalist und Schriftsteller Hans Habe, der 1938 bereits aus Österreich fortgejagt worden war. Da merkte man Nannen an, dass er Mitglied in der der SS-Propagandakompanie Kurt Eggers gewesen war. Andere Reminiszenzen an die jüngere Vergangenheit klangen in der 17-teiligen Serie „Mein Leben gehört Dir“ an, die sich Benito Mussolini und seiner Gefährtin Clara Petacci widmete – insbesondere deren Liebesleben. Weil die Berichterstattung Mussolinis Wirken beschönigte, rief sie den damaligen Presserat auf den Plan.
Eine so dichte Analyse, wie der Kulturwissenschaftler Tolsdorff sie hier abgeliefert hat, wünschte man sich auch für die Frühgeschichte anderer bundesrepublikanischer Presseerzeugnisse. Anlass zu Hoffnung besteht, dass jüngere Forscher neue Zugänge zur problematischen Nachkriegsgeschichte der Medien finden. Tolsdorff ist Jahrgang 1977. Alexander Korb, der gerade aufgedeckt hat, dass Hermann Proebst, der Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung zwischen 1960 und 1970, „de facto zum NS-Herrschaftsapparat im besetzten Jugoslawien gehörte“ (wie die Zeitung selbst es formulierte), ist Jahrgang 1976.
Ob Tolsdorffs Buch bei Gruner und Jahr Widerhall finden wird, ist fraglich. Rüttelt jemand am Mythos des Stern und seines vermeintlichen Schöpfers, reagiert der Verlag einsilbig. Das war zuletzt so, als der amerikanisch-jüdische Journalist Jacob Appelbaum bekannte, wegen Nannens Wirken als Propagandist in der NS-Zeit schäme er sich dafür, den Henri-Nannen-Preis bekommen zu haben. Hinzu kommt: Der Bertelsmann-Konzern hat gerade das letzte Viertel des Verlags Gruner und Jahr gekauft, jetzt wird also erst mal die Zukunft neu verhandelt.
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