Die Herrschaft der Sprache

Paradox Auseinandersetzung mit einigen neueren Thesen von Boris Groys zur Geschichte und Zukunft des Kommunismus

In Bologna traf ich 1992 die Schwester einer ermordeten Mitstreiterin von Che Guevara aus Venezuela. "Kommunismus, das ist vorbei", sagte sie. Sie wurde Katechetin und schickte ihre Tochter ins Kloster. 15 Jahre sind seitdem vergangen. Hugo Chávez ruft den Sozialismus des 21. Jahrhunderts aus. Soziale Bewegungen sind nicht fertig mit dem Kommunismus. Philosophen auch nicht.

Boris Groys zum Beispiel. Der Philosoph und Kunstwissenschaftler an der Universität Karlsruhe, bekannt geworden durch sein legendäres Werk Gesamtkunstwerk Stalin, veröffentlichte 2006 ein Kommunistisches Postskriptum. Im Wesentlichen ist es ein Plädoyer für die Philosophie selbst. Anfangs wurde es wenig beachtet. Zeitweilig steigerte sich das Interesse an der Schrift, es gab Lesungen, Interviews, Besprechungen, aber eine breitere öffentliche Diskussion kam leider bisher nicht zustande, nur im letzten Herbst ging das Philosophische Quartett im ZDF darauf ein, als es über die Politik Wladimir Putins diskutierte. Unbewusst wird manchmal der Titel umgeformt in: Postkommunistisches Manifest. Groys schüttelte leise den Kopf, als sein Kollege Sloterdijke in eben diesem Quartett sagte, es sei ein Testament. Weder Testament noch Manifest, es ist eine Nachschrift, die das vorher Geschriebene und Gelesene ergänzt oder in Frage stellt.

Alle Thesen von Groys zu den Fragen der Zukunft kommunistischer Ideen stellen das bisher Verstandene in ein neues Licht. Sie sind anregend und verstörend zugleich. Wer sich auf den Text einlässt, hat Freude an den überraschenden Argumentationen des Autors und Freude daran, ihm zu widersprechen. Den verbreiteten Behauptungen, dass die kommunistische Theorie im 20. Jahrhundert durch Diktatoren missbraucht und durch Bürokratie erstickt worden sei, dass die Idee verfälscht wurde und noch ihrer Verwirklichung harre oder dass sie nie zu verwirklichen sei und Utopie bleiben werde, tritt Groys entgegen. Er behauptet, es habe dieses "Experiment" in der Realität gegeben. Eine problematische Bezeichnung, weil der Versuch ja schließlich am Lebendigen durchgeführt wurde und viele Leben kostete. Als das Projekt Kommunismus sein Ende fand und keiner weiteren Veränderung mehr unterlag, schon gar nicht einer "permanenten Revolution", sei es zu einer endgültigen Form geronnen, die könne nun erkannt und beschrieben werden, sagt Groys. Nun gut.

Wie es überhaupt möglich war, eine Gesellschaft ohne Privateigentum an Produktionsmitteln gegen die Gesetze der kapitalistische Ökonomie durchzusetzen und über sieben Jahrzehnte zu behaupten, erklärt Groys nicht mit Begriffen wie Despotismus, Sozialfaschismus, Sonderform einer russischen Industrialisierung oder Militärdiktatur sondern mit dem klassischen Begriff von Platon: dem Philosophenstaat. Er sieht das sowjetische "Experiment" als Herrschaft der Politik über die Herrschaft der Ökonomie allein durch das Medium Sprache. Nichts hätten die Inhaber der Sowjetmacht zur Durchsetzung ihrer Ideen gehabt als die zwingende Logik einer dialektisch-materialistischen, einer philosophischen Sprache. Aber hatten sie nicht bald auch Gelder, Waffen und willige Werkzeuge?

Aber es stimmt: In der kommunistischen Gesellschaft herrschte ein starkes Interesse an "Bewusstsein", an jenem dialektischen "Denken des Ganzen", das auch zur begeisterten Selbstaufopferung von Millionen führte. Noch in der DDR rief man oft vor schier unlösbaren Aufgaben stehend, verzweifelt lachend aus: "Das ist eben dialektisch". Jeder kommunistische Führer, der etwas auf sich hielt, verfasste philosophische Schriften, Stalin sogar eine über die Sprache. Jeder Sowjetbürger sollte dialektisch-materialistisch denken, konsequent widersprüchlich, zwei unversöhnliche Seiten in einem begreifend, paradox.

Die Sprache des Kommunismus wurde dann eifersüchtig gehütet, damit sie das gerade aufgestellte Wirkungsgesetz exakt abbilde, damit sie den Apparat durch Überredung zum Handeln zwinge. Unter dem Stalinismus der dreißiger Jahre "musste der sowjetische Mensch jeden Tag die Temperatur des Ganzen der Sprache fühlen, um diesen Tag und die darauf folgende Nacht zu überleben", so Groys. Aber diese Sprache sei erstarrt, leer und formal geworden, der "ständige Aufenthalt im Paradoxen" sei nicht auszuhalten gewesen und habe zu Zynismus und Korruption geführt, zu Planzahlen für Straflager und für Todesurteile, zu "einseitigen, undialektischen" Interessen derer, die gerade die Posten innegehabt hätten.

Wenn die Herrschaft der Sprache ein Wesenszug des Kommunismus war, gerade dann erschrecken seine Grausamkeiten. Kann der Philosophenstaat, das Denken des Ganzen, so mörderisch sein? Ja, sagt Groys, denn die Herrschaft der Sprache führe zur Zuspitzung der Widersprüche, eher erlaube die Herrschaft des Geldes Kompromisse als die Herrschaft der Logik dieser Sprache. Über die Sprache, die Befehle, die jeweiligen Losungen wurde streng Aufsicht geführt. Ganz anders als im Kapitalismus, wo die Ökonomie stumm herrscht und sich mit der kritischen Sprache nicht trifft, habe Kritik, Klage und Anklage mit den Mitteln der Sprache im Kommunismus immer die Macht empfindlich getroffen und sei empfindlich verfolgt worden.

Eine frappierende Antwort hat Groys auch auf die Frage, welche Kräfte das Projekt Kommunismus beendeten. Nicht die Sieghaftigkeit der kapitalistischen Ökonomie sei die Ursache gewesen, denn die Ökonomie der Sowjetunion stand außerhalb der Gesetzmäßigkeiten des kapitalistischen Marktes. Es sei auch nicht wahr, dass die UdSSR militärisch unterlegen war, sie war hochgerüstet und unangreifbar. Aber die Rüstung wurde zu teuer, der Devisenhandel, das Kreditwesen hatten das System schon immer zur kapitalistischen Ökonomie gezwungen, möchte man einwenden. Deshalb eben habe man das Projekt, so Groys, einsichtig und zur rechten Zeit abgebrochen, ohne besiegt worden zu sein, sozusagen, um den Gesetzen der Entwicklung der Geschichte nicht hinterher zu hinken. Eine der schlimmsten Befürchtungen der kommunistischen Führer war es, vor der "Geschichte" zu versagen.

Auch im Inneren hätte nicht der Widerstand der Dissidenten das System zerstört, denn diese Kräfte wären 1989 schon integriert oder eliminiert gewesen. Aber der Apparat stand still, die Macht der Sprache, ihre zwingende Logik war verloren gegangen! In Russland und in China sei es eine Entscheidung der kommunistischen Führer selber gewesen, das Projekt im Moment seiner Stagnation abzubrechen und den Kapitalismus aufzubauen. Wie Marx schon angedacht habe, wollte man den Kapitalismus und seine Hochproduktivität als Motor nutzen. Unter der Leitung des Apparates wurde die Umverteilung des verstaatlichten Eigentums in privates Eigentum vollzogen. Es sei eben erforderlich geworden, "die andere Seite des Widerspruches" unter der Kontrolle der kommunistischen Partei für den Sieg des Kommunismus arbeiten zu lassen.

Der Leser schüttelt ungläubig den Kopf. Er, der gerade bei Groys von der Macht der philosophischen Sprache las, widerspricht. Unter den neuen Umständen wird es gar keine wirkliche, bis in das Bewusstsein jedes einzelnen Bürgers vordringende Macht der Sprache über die Ökonomie mehr geben. Da die Ökonomie nun wieder stumm ihren Gesetzen folgt, werden die neuen Besitzenden, zum Beispiel die neuen russischen Millionäre, wegen ihrer außerhalb des "Totalen, des Ganzen" liegenden Interessen keiner Macht der Sprache gehorchen, keine Akzeptanz der Widersprüche aushalten. Sie werden nur ihre einseitige Wahrheit kennen und jede Gegenposition sophistisch verbergen.

Populäre Vorstellungen einer Wiederbelebung des kommunistischen Projektes gehen von einer Verschärfung der sozialen Konflikte aus, wie sie in Südamerika zu beobachten sind. Nach Groys´ Auffassung werde es möglicherweise Wiederholungen des Projektes geben aus ganz anderen, philosophischen Gründen, nämlich wegen der Überlegenheit der Sprache über das Geld. Sprache sei demokratischer. Eine versprachlichte Macht sei also gezwungen, die Gleichheit aller Sprechenden vorauszusetzen. Es werde durch die Sprache der Philosophie die Chance geboten, im Selbstwiderspruch zu leben, ohne ihn verbergen zu müssen. Danach verlange der Mensch, und dieses menschliche Bedürfnis allein ist für den Philosophen Groys schon eine Hoffnung.

Im Moment scheint die Macht einer philosophischen Sprache aber gegen die Gesetze des Medienmarktes wirkungslos. Dagegen gibt es eine furchtbare Macht von Sprache, die nicht philosophisch dialektisch und wahr ist. Diese Sprache versucht, sophistisch verdunkelnd (Sokrates), sogar die stumm wirkenden, rationalen Gesetze der kapitalistischen Ökonomie auszuhebeln. Sie wird von Fundamentalisten überall gerade erfolgreich angewandt. So etwas jedenfalls erwähnt Groys, wenn er sein Postskriptum öffentlich bespricht. In einem Interview mit dem Berliner Dramaturgen Carl Hegemann ging er sogar so weit zu sagen, dass in den USA jetzt durch Präsident Bush der Markt einem irrationalen strategischen Denken unterworfen werde. Es gäbe da Zielsetzungen, die unrealisierbar oder undefinierbar, nach Kriterien der Logik und Rationalität nicht auflösbar und mit den Gesetzen des Marktes nicht vereinbar seien. Ob Bush so einsichtig sein wird, sein "Experiment" auch rechtzeitig zu beenden?

Boris Groys: Das kommunistische Postskriptum. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2006, 92 S., 8,50 EUR


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