Fruchtbares Scheitern

Alle müssen weg Der Fall Medea und die internationale Solidarität an der Volksbühne in Berlin

"Merkt ihr nicht, was hier los ist? Der besetzt das Theater, der beutet uns aus! So eine Scheiße!" Sicher war der Ausbruch eines Schauspielers bei der Premiere des Stücks Medea in der Stadt unter der Regie von Andrij Zholdak eine Schein-Provokation. Denn die Volksbühne am Rosa Luxemburg Platz lädt sich absichtlich immer mehr Welt auf den Buckel. Ständig wächst die Asyl- und Gastgeberrolle des Hauses. Es werden mehr und mehr neue Wege suchende Theaterleute aus dem Ausland eingeladen. Und wie immer geht das Unternehmen weit hinaus über seine Möglichkeiten und gerät dabei auch in Gefahr. Sind es die Richtigen, die da gerufen werden? Man ruft nicht unbedingt staatlich sanktionierte Kulturrepräsentanten, sondern umstrittene, verfemte oder sperrige Künstler, die selber zu Hause in Gefahr geraten oder keine Chance haben zu wirken.

Im Prater treten gerade in Schön ist gewesen (ist gekommen Iwan) die "Witwen der Perestroika" aus Kaliningrad/Königsberg auf. Das Stück ist eine Farce, aber das unsichere Lachen über die ungelösten Fragen dieser Enklave, über die Deutschen, die ihre alte Straße suchen und die jungen Mädchen, die raus, raus, raus in den Westen wollen, die künstliche Einsicht in den Gang der Geschichte, die nur ein dünner Lack ist über dem unheilbaren Nationalismus - das alles blitzt nur kurz auf und ist nicht bewältigt, auch in diesen lockeren Versuchs-Formen nicht. Aber immerhin wird es angefasst ohne Scheu.

Die erklärte Intention der Volksbühne hinter der Einladungspolitik ist es, von überall her "Verbündete" herbei zu rufen, die ähnliche Kunstkämpfe kämpfen wie das Haus am Rosa-Luxemburg-Platz selbst. Das soll zurück wirken auf die Arbeit, damit man nicht "im eigenen Saft" schmore oder politisch versage, damit man sowohl der Konkurrenz der neokonservativen Theaterkultur als auch der Konkurrenz am gleichen Strang ziehender Theatermacher in Berlin, "die einem im Nacken sitzen", gewachsen sei. Es bildet sich dabei eine Art Gegenglobalisierungs-Globalisierung aus, wie sie wohl die Gewerkschaften auch ausbilden sollten.

Im September war das Teatro Oficina aus Sao Paulo mit Krieg im Sertao da, einer Inszenierung, die einige Polemik auf sich zog. Jedoch waren nicht das angeblich Pornografische und nicht das Folkloristische das eigentliche Problem der Aufführung, sondern vielleicht eher, dass die Darstellung brasilianischer Geschichte doch zu weit "außen" blieb, zu dekorativ, das Drama ist eben nicht die Bebilderung des äußeren Konfliktes.

Im Oktober dann kam Andrij Zholdak mit seinen Darstellern aus Charkow und "besetzte" die Volksbühne. Dem Teatro Oficina droht Abriss und Privatisierung, dem Ukrainer wurde in Charkow gekündigt. Solidarität ist also angesagt. Für den Krieg im Sertao wurde das Parkett ausgeräumt und eine Piste gebaut, für die Ukrainer wurden überall russische Hinweiszettel aufgehängt, die mitgebrachten Inszenierungen verlangten viel Ausstattungsarbeit. Die Techniker hatten unmäßig zu tun.

Medea in der Stadt erscheint nun von den letzten Gast-Inszenierungen in der Volksbühne als die wohl anspruchsvollste und umstrittenste Arbeit. Sie trug offenbar alle Konflikte, die bei der Zusammenarbeit mit einem "seltenen, außergewöhnlichen und begabten" Menschen aus dem Ausland denkbar sind, in sich. Über dem Oktoberprogramm der Volksbühne stand übrigens das Motto "Ausweitung der Ostzone".

Vorläufig erlitt die Volksbühne mit Zholdak jedoch so etwas wie eine Niederlage. Bei der Premiere zu Medea in der Stadt verließen in der Pause Teile des Publikums das Theater. Das heißt allerdings noch nicht, dass die Inszenierung nichts wäre. Tage nach dem Besuch der Aufführung werden die Bilder und Rhythmen in der Erinnerung stärker. Das ist eigentlich ein gutes Zeichen.

Medea ist aktuell. Medea! brüllt Jason (Mark Hosemann) viele Male, dem ungeheuerlichen Klang, den dieser archaische Name hat, nachhorchend. Neue Frau, neue Wohnung, neuer Ort! Und was ist mit den Kindern? Solche übliche Opferung der Kinder heißt nicht Mord. Aber immer öfter wird auch von Kindermorden berichtet. Unaushaltbare Erniedrigungen führen zu Exzessen der Rache. Die Kulturen stoßen sich brutal, "Errungenschaften" der Zivilisation versinken in Barbarei. Das sei die Barbarei nach der Zivilisation, sagt auch Zholdak.

Eine Medea, inszeniert von Leuten weit aus dem Osten, eine, die zum Verrat verführt und dann verraten wird, das bekommt einen besonderen aktuellen Klang. Die fremde Sprache kommt dazu. Sprache ist nicht nur Information. O-Ton-Filme zeigen das. Auf besondere Weise ergreift das russisch gerufenene "Mama, Papa" aus Kindermund, und besonders ergreift auch der auf Russisch deklamierende Chor.

Wenn etwas im Wortsinn verstanden werden soll, gibt es auch deutschen Text, Texte, in denen über Charkow berichtet wird auf Tafeln, Texte von Euripides und aus dem Medeamaterial von Heiner Müller. Sonst ist das Sprechen der Darsteller, ob deutsch oder russisch beziehungsweise ukrainisch mehr als Ausbruch und nicht als Aussage gemeint. Vieles wird überschrieen, oder es handelt sich um Laute, wie an einer Stelle das enorme Raubtierfauchen der Frauen. In den katastrophalen Zuständen schnurrt die Sprache zu einem einzigen Wort zusammen: "Scheiße!", unendlich wiederholt in allen Variationen, auch gesungen.

Das Stück baut sich aus zwei Teilen auf. Der erste Teil spielt in einer Plattensiedlung in Charkow, Ukraine; der zweite Teil in einer archaisch-antiken Welt. Der Anfang ist voller verzweifelter Komik. Schön, wie der Durchzug harten Windes beim Öffnen der Balkontür im achten Stock das Chaos einer aus den Fugen geratenen Gesellschaft verstärkt. Die nackten Fakten über die Zustände in den Plattensiedlungen Charkows auf den Schrifttafeln lösen tiefe Bestürzung aus. Bei den unendlichen Wiederholungen der Slapstick-Nummern aber bleibt das Lachen im Halse stecken. Zwei Mal werden alle Möbel aus dem Fenster geschmissen, unerträglich oft wird jene dumme atemlose Hetzjagd nach dem neuen, ganz anderen Leben vorgeführt. Nur selten erhebt sich aus dem Chaos so etwas wie Gesang, echte Gesten, wirkliche Worte, etwas wie die profanisierte Geschichte der Atriden als kleine Kulturreste.

Ein russisches Sprichwort besagt: Die Wiederholung ist die Mutter der Weisheit. Die Wiederholungen des Zholdak sind exzessiv. Er terrorisiert damit, nicht zuletzt auch die Schauspieler. Eine Art Kreon (Frank Büttner) tritt als Besitzer der Wohnung in der Platte auf. Seine Tochter, (Viktoriya Spesivtseva) will den Mann haben, der mit einer arroganten, schönen Frau zwei hübsche Kinder hat.

Jener Wohnungsinhaber hat Besitz und Macht nur durch seine brutale Rücksichtslosigkeit bewahrt; das wird vorgeführt. Er lässt alle ihn umwerbenden Frauen, eine nach der anderen, eintreten, ohrfeigt sie, taucht sie unter, schmettert sie an die Wand und wirft sie zum Fenster hinaus. Quälend oft wiederholt sich die Zerstörung der Frauen durch den Mann.

Man bringt auch die Kinder in die Wohnung, verwöhnt sie und quält sie. Eine zwangsweise kultivierte Gesellschaft füllt schließlich dekorativ den 8. Stock. Schließlich wird sie von Medeas Kindern erschossen. Die Zuschauer, die in der Pause gingen, haben nur eine von Zholdaks Medea-Interpretationen gesehen.

Nach der Pause setzt Euripides-Text ein. Den Kindern, anmutig, weiß, rein gehört nun alle Sympathie. Sie werden die Hauptdarsteller in den Szenen des elenden Krieges der Eltern um Existenz und Lustgewinn. Sie erleben die Trennung von Tisch und Bett schmerzhaft als ein Zersägen ihres Zuhauses. Ihre spitzen Schreie stehen schließlich über allem.

Aber das ist nicht das Ende bei Zholdak. Denn es gibt ein nicht enden wollendes Ende. Viele weitere gleichnishafte Bilder folgen, unablässig gibt es neue Deutungsaufgaben von bösen Träumen - eine Äpfel essende und wieder auskotzende Hochzeitsgesellschaft, ein Experiment an den Kindern, das ewig missbrauchte Kalinka-Lied, ein wuchernder Wald, menschenfressende Riesenkäfer. In den Umbaupausen erklingen Geräusche von Unwetter und stürzenden Bäumen in unendlicher Wiederholung, so dass man gequält wünscht, es möge aufhören.

Es hört aber nicht auf - bis Medea aufgibt. Sie liebt, versöhnt sich. Jason und Medea sitzen am Tisch. Und? ES rächt sich. Die Kinder, die süßen, so anmutig sich verständigenden Kinder, erschießen die Eltern, erschießen alle, auch die Theatertechniker. Der Zuschauer ist nicht erschrocken, sondern erlöst. Die Kinder erscheinen unschuldig und im Recht. Sie fahren, (Video), zurück nach Kiew.

Was hat sich da gerächt? Rächten sich durch ihre Kinder die betrogenen Völker, die angeblichen Barbaren? Oder rächte sich die Verletzung des Rechtes einer heranwachsenden Generation überhaupt? Es komme viel Undeutbares in Zukunft auf uns zu und auf die Bühne, meint Zholdak.

Er pflegt einen tyrannischen Geniekult, sagt man. So etwas passt nicht zur internationalen Solidarität? Es lässt sich leicht reden über die Fruchtbarkeit des Scheiterns, voraus berechnen lässt sich das nicht. Über dem Novemberprogramm steht das Motto: "Kalkulierte Exzesse. Alle müssen weg."

Medea in der Stadt ist noch am 1., 3. und 4. Dezember in der Volksbühne in Berlin zu sehen.


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