Keiner hat es vergessen

Die lange Nachwirkung eines Gebäudes Zwar für das Leben, aber in der Schule lernen wir

Schulen sind Häuser des öffentlichen Besitzes! Das Kind lernt dort das Öffentliche kennen, lieben oder verachten. Häuser des öffentlichen Besitzes interessieren mich mehr als andere Häuser. Ein lange leer stehendes Schulhaus, ein leer stehender Kindergarten wirken auf mich viel bedrückender als eine leer stehende Villa.

Der Verlust von öffentlichem Reichtum macht mich traurig. In Berlin Mitte, in der Auguststraße, sind seit 1989 fünf Schulen geschlossen worden. Vorne am Koppenplatz auch die ehemalige Brecht- Schule, sie hatte eine kleine Schwimmhalle auf dem Hof. 1990 oder 1992 war ich noch einmal in der Aula. Bundestagswahl? Kommunalwahl? Irgendwie waren die Worte von Brecht noch nicht abgenommen worden, die da über der Bühne hingen. "So wie die Erde ist, muß die Erde nicht bleiben." Als 1. Gemeindeschule wurde die dreiflüglige Anlage 1902 von Ludwig Hoffmann, dem berühmten Berliner Schulbaumeister, erbaut. Dieses Gebäude wirkt in der Silhouette der Spandauer Vorstadt mit seinen hohen Mansard-Dächern und dem weithin sichtbaren Uhrtürmchen fast wie ein Barockschloss. Ich bewundere Ludwig Hoffmann und alle, denen es gelingt, den öffentlichen Schulen ein gutes Gebäude und ein gutes Gesicht zu geben.

Der Schulbau entwickelt immer eine Art Gesellschaftsmodell. Es verblieben uns aus den Zeiten unterschiedlichster Schulbaukonzepte: magere Schulkasernen, trutzige Schulburgen und prächtige Schulpaläste, Lernlauben und Lernlabors, abblätternde Plattenbau-Schultypen, gläserne Lernkathedralen, Schulbaracken und Schulschuppen.

Christoph Stölzl, Berliner CDU, lobte, als er im Zusammenhang mit den Schrecken der PISA-Studie über die anstehenden Probleme der Bildung sprach, die alten Berliner Schulpaläste aus der Kaiserzeit und das vorbildliche preußische Bildungssystem, das in der ganzen Welt nachgeahmt worden sei. Im gleichen Atemzug forderte er dazu auf, für Schulen möglichst freie Träger zu suchen, sie zu privatisieren.

Eine Tendenz zur Privatisierung drücken die von ihm gelobten Schulpaläste aber gerade nicht aus. Während andere deutsche Länder um 1900 die Höhere-Töchter-Schule noch lange in privaten Händen ließen, erbaute Berlin 1902 die ersten Lyzeen mit staatlichen Mitteln. 48 Gemeindeschulen sind unter der Leitung des Stadtbaurates Ludwig Hoffmann in der Zeit von 1890 bis 1914 entstanden. Großzügige Bauten entstanden auch in den nordöstlichen Arbeitervierteln.

Höhere Steuereinnahmen der expandierenden Hauptstadt, die preußische Tradition patriarchalischer Verantwortung, bürgerliche Reformideen und Bildungsansprüche der Arbeiterbewegung kamen da zusammen. "Qualitätvolle Vielfalt, Einheit von Gediegenheit und Gesetzmäßigkeit, Wahrung der besten Berliner Traditionen seit Schinkel, Überwindung des dekorativen Historismus, die Verbindung von Offiziellem mit dem Modernen." So loben die Architekturthistoriker die Schulen von Ludwig Hoffmann.

Ich bin schon als Lehrer-Studentin gerne in die großen Schulen aus der Kaiserzeit gegangen. Aber natürlich dachte ich beim ehrfürchtigen Besuch dieser alten Schulpaläste auch an Bölls Wanderer kommst du nach Spa... und daran, wie der Schwerverwundete das humanistische Gymnasium, das inzwischen Lazarett geworden ist, die antikisierenden Plastiken, den Hausmeister und auch die Tafel in seiner Klasse wieder erkennt, unter der man ihn zu Tode amputiert.

Nicht vergessen will ich die Prügelstrafe in diesen Schulen, und dass aus ihnen nicht nur disziplinierte Facharbeiter und bedeutende Wissenschaftler hervorgingen, sondern auch gehorsame Befehlsempfänger, Handlanger von Massenmördern und Duckmäuser.

Auf sehr alten Klassenfotos kann man in den Gesichtern der Kinder manche Bedrückung, Einschüchterung und Kränkung sehn. Die alten Wände hatten Ohren, und die stabilen Balken bogen sich nicht, wenn gelogen wurde.

Die deutsche Geschichte, ihre Größe und ihre Schrecken an der Geschichte des eigenen Schulgebäudes zu begreifen, das halte ich für Bildungs- und Erziehungsgewinn. Manche Hoffmannschule in Berlin eignet sich gut dafür.

In der Andreasschule in Berlin Friedrichshain (1906 errichtet, Architekt: L. Hoffmann) hängt gleich im Erdgeschoss eine Dokumentation der Geschichte der Schule, Gustav Stresemann war hier Schüler. 1935 zeigte ein "Erbhofbauer" einen Lehrer an, weil der ein "Judenkind" schützte. Die Andreasschule verleugnet auch ihre DDR-Geschichte nicht. Zwei der Anschauungs-Tafeln erzählen davon, genau und gerecht. Ich steige das weite Treppenhaus hinauf, bin begeistert von den schönen Bogengurten der Wölbung über den weiten saalartigen Fluren, in denen die alten Sammlungsschränke stehen, von den breiten Fensterbrettern, auf denen bequem ein Junge und ein Mädchen nebeneinander hocken können, von den eingelassenen Reliefs an den Pfeilern! Baurat Hoffmann bezog gerne Plastisches mit ein. Plastisches belebt. Plastisches ist für Heranwachsende so unvergesslich wie der immer wieder gefühlte Tierkopf am Ende des Treppengeländers, das man als Kind hinunter rutschte.

Das heutige Schliemann-Gymansium in der Dunckerstraße, Prenzlauer Berg ist in rotem Klinker erbaut. Ludwig Hoffmann, Verbindung von hochqualifiziertem Handwerk und beginnender Fertigteilproduktion. Das wird aufwendig restauriert. Ein Kunstlehrer der Schule, ein Herr Heinrich Hoffmann, zeigte mir den Gebälkstein, den er bei der Dachsanierung gerettet hatte und einen Dekorstein, den er im Keller gefunden hat.

Wir besichtigten den Erweiterungsbau für Naturwissenschaften und die Turnhallen in zwei Etagen übereinander, ein verglaster Durchgang zwischen den Bauteilen. Sehr schön sind Alt und Neu zusammengefügt. Räume wurden für den Kunst-Unterricht frei. Nach 35 Jahren Unterricht hat Herr Hoffmann endlich einen Wasseranschluss und muss nicht mehr mit Eimern durch die Flure. Im Kellergeschoss wurden die geschmiedeten Beschläge und die Kleeblattbögen der neogotischen Fenster saniert. Die Tischler lobten die gut gearbeiteten Wasserschenkel aus Eiche. Hier zeigte Herr Hoffmann seinen Schülern, was Handwerk ist. Sie renovierten selber die Flure im Altbau. Es gab das Hinweisschild: "Achtet die Arbeit eurer Mitschüler!" Kein Spray, keine dunklen Tritte an der hellen Wand.

Es ging wohl nicht nur um den lange erkämpften Erweiterungsbau, sondern auch darum, dass Schüler im immer noch benachteiligten Nord-Osten der Stadt während ihrer Schulzeit erfuhren, dass sie nicht in etwas Vernachlässigtes abgeschoben worden sind, oder sich haben abschieben lassen. Sie erlebten eine spürbare Verbesserung ihrer Ausbildung und ihres Schulhauses, um die sie selber, ihre Eltern und ihre Lehrer sich leidenschaftlich bemüht haben.

Ich habe niemanden getroffen, der sich nicht intensiv mit Sympathie und Antipathie an sein Schulhaus erinnert. Das Haus hat sie alle beeinflusst, geformt. Vielen Schulhäusern fehlt es an materiellen Mitteln, an öffentlicher Fürsorge für Restaurierung und Renovierung. Hauptsächlich aber fehlt es vielen an Charakter und an Gesicht. Und das Kapital flieht nicht nur den Standort, sondern auch die öffentlichen Schulen und schickt seine Kinder privat.

Ohne Liebe zur öffentlichen Schule, ohne gute Bildungspolitik und ohne Lehrer, die von der Gesellschaft geachtet werden, wird es auch mit klug und schön ausgedachten Schulneubauten oder aufwendig restaurierten alten Schulpalästen nichts. "Lohnt es sich noch zu hoffen?" solche Formulierungen werden jetzt von Journalisten gebraucht. Diese Frage dürfen gute Lehrer, interessierte Eltern und lebendige Schüler sich gar nicht erst stellen, denn, wie ihre Schule ist, muss ihre Schule nicht bleiben.

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