Zwei Sultane, Herrscher über sagenhafte Reiche in sagenhafter Zeit, Brüder, Schahsamèn und Schariar, erleben, dass die Selbstgewissheit ihrer absoluten Gewalt erschüttert wird, dass ihre Haremsdamen Liebe und Lust mit anderen Männern, ja mit Sklaven, leben. Nach einer Wüstenwanderung, die seelische Heilung bringen soll, nach »der Suche nach jemandem, der noch unglücklicher ist«, kommt Schahriar unbelehrt in sein Reich zurück, richtet ein Blutbad im Harem an und tötet von nun an jeden Morgen die Frau, die er am Abend vorher heiratete, bis Scharezad, die Tochter seines Wesirs, ihn mit ihren Geschichten daran hindert.
Das weitere Schicksal Schahsamèns, seine Entmachtung, seine Zufriedenheit mit der Liebe zu zwei »Jugendgespielin
dgespielinnen«, wird in Tausend und eine Nacht nicht erzählt. Schahsamèn wird aber bei Saddek und Sabine Kebir der eigentliche Held. Er reagiert anders als sein Bruder, er nimmt mit Freude Anteil an der Lust anderer, entwickelt Reformidee, Einsicht und Verständnis. So weit gingen die in der islamischen Kultur heute vielfach verleumdeten und verschwiegenen Märchen in ihrer poetischen Freiheit noch nicht.Die neue Variante der uralten Geschichte bettet die Rahmenhandlung von Tausend und eine Nacht in einen neuen Rahmen. Ein Märchenerzähler der modernen arabischen Welt verspricht seinen Hörern in einem Café, dass sich am Ende der 26. Nacht des Ramadan der Himmel öffnen werde, um Wünsche zu erfüllen. Sein Wunsch wurde erfüllt, die Figuren aus Tausend und einer Nacht kommen ins Café, zu Bericht und Zeugnis bereit, mit sehr schwacher Energie ausgestattet, unberührbar und jedenfalls zu schonen. Der Leser erlebt in der oft eingeschobenen Rahmenhandlung eine Art »Kleinstkongress mit basisdemokratischem Verhaltenskodex« in dem die gegensätzlichen Auffassungen innerhalb der islamischen Bevölkerung zur alten Geschichte und deren neuen Deutung diskutiert werden. Der Erzähler ist Unterhalter und Vermittler, belehrt und besänftigt. Seine Zuhörer gehen am Morgen dankbar davon, ihre Wünsche wurden erkannt, aber sie werden auch am 27. Tage des Ramadan fasten, dürsten, sich der Liebe enthalten, wie der Prophet es befahl.»Wollen wir den Unterschied zwischen Poeten und Propheten näher andeuten, so sagen wir: beide sind von einem Gott ergriffen und befeuert, der Poet aber vergeudet die ihm verliehene Gabe im Genuß, um Genuß hervorzubringen ... er sucht mannigfaltig zu sein, sich in Gesinnung und Darstellung grenzenlos zu zeigen. Der Prophet hingegen sieht nur auf einen einzigen Zweck ...Irgendeine Lehre will er verkünden ... Hierzu bedarf es nur, daß die Welt glaube; er muß also eintönig werden und bleiben, denn das Mannigfaltige glaubt man nicht, man erkennt es.« ... »In seiner Abneigung gegen Poesie erscheint Mahomet auch höchst konsequent, indem er alle Märchen verbietet. Diese Spiele einer leichtfertigen Einbildungskraft, die vom Wirklichen bis zum Unmöglichen hin und wider schwebt und das Unwahrscheinliche als ein Wahrhaftes und Zweifelloses vorträgt ... Luftgebilde über einem wunderlichen Boden schwankend ... die den Menschen nicht auf sich selbst zurück, sondern außer sich hinaus ins unbedingte Freie führen und tragen!«Dieser eingekürzte Ausschnitt aus Goethes Anmerkungen zum West-Östlichen-Diwan dient dem Verständnis des vorliegenden Buches. Man könnte vereinfachend die beiden Autoren als »Poeten« den heutigen fundamentalistischen »Propheten« gegenüberstellen.Allerdings der Glaube an einen Schöpfer und Richter Allah wird uns in diesem Text weiter verständlich, ja liebenswert gemacht. Gestalten wie der Oppositionelle, der»Wollmann«, der den beiden Sultanen in der Wüste das Leben rettet, führen einen innigen Dialog mit Allah, der ihnen Ausdauer und Geduld gibt. Sultan Schahsamèn kommt zu der Erkenntnis, dass kein Mensch Allahs Wahrheit besitzen kann, währen sich Sultan Schahriar immerhin bei der Überlegung ertappt, »ich herrsche über Menschen, die mir gehorchen müssen, damit sie dir ( Allah) gehorchen, oder ist es umgekehrt?« Schön sind die islamischen Varianten der biblischen Geschichte, die der Erzähler einfügt, in denen er die Juden »unsere Cousins« nennt und den Propheten Christus edel, aber zu arm.Als die Sultane den finden, »der noch unglücklicher ist als sie«, den gewaltigen durch Meere und Lüfte fahrenden Geist, an dem seine eingesperrte Frau sich furios rächt, ist das ein »christlicher Dshin«. »Muslima« nennt der Dshin sein Weib, aber die von ihr vergewaltigten Sultane trösten sich, Ehebruch mit Christen gilt nicht.Es wechseln in der wuchernden Fabulierkunst des Textes die Töne der freundlichsten Aufklärung mit dem vulgärstem Sarkasmus. Es gibt eine ironische Akzeptanz von Unrecht, wie sie Märchen unterdrückter Völker haben. Logikbrüche kommen vor, einem Ochsen wird die Paarung zugemutet, ein Verdurstender tötet um eines Stückes Brotes willen. Umgangssprachliches steht abrupt neben dem hohen Ton. Der Text wird gerade ins Französische und Arabische übersetzt. Logikbrüche und Sprachstörungen könnten überprüft werden»Mannigfaltigstes« wird aufgeboten, um die zugleich süße und gnadenlose islamische Welt und ihre schöne und bittere Natur zu beschreiben. Sehr gut gelingt das in den Schilderungen des Überlebens in der Wüste. Die ältesten, die indischen Schichten der Erzählung werden in unser Bewusstsein gehoben. Bösartig komisch wird damit fabuliert. Es gäbe einen Stau auf der Brücke zum Paradies wegen der Massenmorde Aufständischer. Allah habe deshalb eine Seelenwanderung verordnet, so dass die Lebenden keinen Mangel an Tieren und Früchten leiden trotz der Misswirtschaft kulturloser Umstürzler. Bezüge zu politischen Zuständen von heute sind stets eingefügt. Die »Krummnasen«, der militärische Arm der »Wollmänner«, können nur Schätze verprassen, Bibliotheken verstreuen, Straßennetze und Steuersysteme verkommen lassen.Die aus der orientalischen Kultur gezogene Sinnlichkeit und der Lebensgenuss fesseln in diesem Buch. Sexualität und Macht in ihrer Verknüpfung sind hier immer Motiv. »Ein Sultan muß auf festen Füßen stehen und einen steifen unbiegsamen Schwanz haben«. Wucherungen gibt es mit Maß und Zahl in scherzhafter Willkür. Eine 440 Pfund schwere Haremsdame hat einen sechs Meter großen, schwarzen Sklaven zum Geliebten. Die berauschende Materialität, die Überfülle der genießbaren Dinge bleibt oft dekorativ. Die inneren Konflikte zeigen sich nur im Dialog mit Allah.Neben der »Mannigfaltigkeit« und der »Öffnung ins unbedingt Freie« lobt Goethe am orientalischen Poeten den »Geist«, die Sentenz. Schöne Sentenzen hat der Text. Die Besucher aus Tausend und eine Nacht sagen im Café: »Uns Jenseitige drückt nichts mehr auf die Schultern als das Gesetz der historischen Wahrheit.«Über ein Viertel Jahrhundert leben und arbeiten Saddek und Sabine Kebir zusammen und getrennt, organisiert oder allein an den kulturpolitischen Fronten für eine Demokratisierung der arabischen Welt und für die Verteidigung der Aufklärung in Europa. Es liegt auf der Hand, dass diese beiden, eine Deutsche und ein Algerier, die sich nach dem Studium an der Humboldt-Universität in der DDR verbunden haben, dann in Algerien und später in Westberlin lebten und arbeiteten, nicht ablassen konnten von den Geschichten der Scharezade. Der Untertitel ihrer Forterzählung unterscheidet zwischen Liebe und Liebesliebe. Natürlich sind die Autoren selber in ihren Figuren, und ihre Auffassung von Liebe steht mit im Text.Saddek Sabine Kebir: Zwei Sultane. Von Liebe und Liebesliebe. Peoples Globalisation Edition. Amsterdam, Berlin, Algier 2002, 257 S., 22 EUR
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