Und da können Sie lachen?

Medientagebuch "Das Kapital" als Hörspiel: Rimini-Protokoll hat die eigene Inszenierung fürs Radio eingerichtet

Sendezeit: 54 Minuten. Nach Berechnungen von Thomas Kuczynski eine Zehntelsekunde pro Zeile. Bei einer Viertelsekunde pro Zeile hört man noch Sprachreste, ein Zehntel wird zu - tss. Zu nichts.

Karl Marx - Das Kapital, Erster Band, das Stück der Theatergruppe Rimini-Protokoll (Helgard Haug und Daniel Wetzel), hat seit der Premiere vor über einem Jahr (Freitag 23/2006) auf vielen Bühnen für Aufsehen gesorgt. Jetzt hat der Deutschlandfunk mit den Autoren ein Hörspiel produziert, das erfreulicherweise eigene Qualitäten zeigt. Das Überlagern von Stimmen und Klängen, Thesen und Biographien, von Liedern, Sentenzen, Sprachen schafft eine Vorstellungen davon, wie die Sprecher sich ihrem Thema nähern. Der Umgangston ist offen, man will voneinander lernen.

Die Akteure sind wie in der Inszenierung: Thomas Kuczinsky, der Ökonom und Statistiker; Christian Spremberg, der blinde Call-Center-Agent und Plattensammler; Ulf Mailänder, der Autor der Biographie des Wirtschaftskriminellen Jürgen Harksen; Jochen Noth, der ehemalige Kommunist und jetzige Anlageberater; Talivaldis Margevics, der Filmemacher; Sascha Warnecke, der Jungkommunist; Ralph Warnholz, der ehemalige Gewerkschafter und Spielsüchtige, jetzt Elektroniker; Franziska Zwerg, die Übersetzerin. Dazu kommt im Hörspiel die bekennende Prostituierte Lolette. Alles Spezialisten mit "ökonomischen Charaktermasken."

Es wird über Geld geredet. Geld, das der Betrüger Harksen "verdampft" hat, das der Spielsüchtige los sein wollte, das ein Sekretär des Bundes der Kommunisten Westdeutschlands öffentlich verbrannte. "Meine Plattensammlung, ... die mich ´ne ganze Menge Kapital gekostet hat", sagt Spremberg. "Geld", verbessert Kuczynski. Ein Ökonom reagiert da empfindlich.

Geduldig sorgt der von Geburt an Blinde mit sanfter Intelligenz und ordnenden Hinweisen dafür, dass der Hörer durchsieht. Von der Verwandlung eines Menschen in Ware erzählt auf Russisch der lettische Filmemacher. Seine Mutter habe nach dem Kriege auf dem Transport in die SU hungernd im Viehwaggon sich geweigert, ihn an eine polnische Bäuerin für Lebensmittel zu verkaufen. Gleichzeitig mit seinem Russisch hört man die Stimme der Übersetzerin und knapp versetzt die des ehemaligen Gewerkschafters, der sich nach seinem "Wert" für einen Unternehmer fragt. Und gegen die Geschichte von der nicht käuflichen Mutter bemerkt: "Jeder ist käuflich." In seinem Fall: für 500.000 Euro. Es geht nicht um einen Grundkurs in politischer Ökonomie. Aber die Bewegungsgesetze des Kapitalismus, die Marx untersuchte, bewegen auch diese dokumentarisch in Szene gesetzten Lebensläufe. Einsichten leuchten wie Sternschnuppen auf. Wer sie sieht, darf sich was wünschen.

"Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ungeheure Warenansammlung." Zum Thema "ungeheure Warenansammlung" legt Spremberg aus seiner Plattensammlung Schlager auf. "Fahren auch Sie den neuen Taunus!" Warenhäuser sind die "gespenstische Gegenständlichkeit der zu einer bloßen Gallerte gewordenen menschlichen Arbeit". Da ist man sich einig. Der ehemalige Maoist und jetzige Unternehmensberater Noth berichtet auf Chinesisch, wie er in den Siebzigern nach China floh, um einer Gefängnisstrafe zu entgehen. Er traf dort auf Überlebende vieler revolutionärer Bewegungen des vergangenen Jahrhunderts. Das Kapital auf Russisch oder auf Chinesisch? Millionenauflagen weltweit, wenige haben es wirklich gelesen. Die Zuhörer werden aufgefordert, ihren Band aus dem Regal zu ziehen. Nur drei Prozent würden das tun, so die Erfahrung von Spremberg.

Ralph Warnholz, den schon der Verhandlungssatz bei Lohnabschlüssen - "Wir müssen aufeinander zugehen" - angeekelt hat, ist empört über den Versuch eines Sprechchors: "Es lebe der Sozialismus!" Lolotte sagt nur lachend " Es geht nicht." Durch sie bleibt manches unten, "auf dem Teppich."

Gerade aus der besonderen Dichte von Verständnis und Missverständnis, von sich ergänzenden, sich widersprechenden und aneinander vorbei fließenden Reden werden im Hörspiel Funken der Erkenntnis geschlagen. Anderes bleibt banal oder Irritation. Eine einfache Ordnung ist nicht beabsichtigt.

"Es gibt unglaublich lustige Stellen", sagt Kuczynski, der an einer neuen Auflage des Kapital arbeitet. Zwischen das Lachtraining im Studio setzt er das bekannte Zitat: "Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn ... 50 Prozent, positiv waghalsig; für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert."

"Und da können Sie lachen?"

Karl Marx - Das Kapital, Erster Band wird gesendet am 19. November um 23.05 Uhr (WDR 3) und 20. November um 20.10 Uhr (DLF). Die gleichnamige Inszenierung ist demnächst in Hamburg zu sehen: 30. November bis 2. Dezember jeweils 20 Uhr (Kampnagel).

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